Herr Neukam, welche Argumente
sprechen für die Wahl von Latein als
erster Fremdsprache?
Hier lassen sich viele Gesichtspunkte
anführen. So legt der Lateinunterricht
ein solides Fundament für das Erler–
nen weiterer Sprachen. Darüber hin–
aus werden den Schülern Kultur und
Denkweise Europas aus den Wurzeln
der Antike erschlossen. Aber vor al–
lem bietet Latein als erste Fremd-
nur auf einige Erfahrungswerte zu–
rückgreifen. Danach bringt ein Kind
dann gute Voraussetzungen für La–
tein mit, wenn es im schriftlichen und
mündlichen Gebrauch der deutschen
Sprache sicher ist und wenn es sich
auch einmal längere Zeit mit einer
Arbeit oder einem Spiel beschäftigen
kann. Natürlich ist bei dieser Frage
auch die Beurteilung durch die
Grundschule hilfreich.
"GERADE HERAUS–
RAGENDE NATUR·
WISSENSCHAFTLER
BETONEN, WIE
WICHTIG FÜR SIE
DAS WISSEN
AUS DEM LATEIN·
UNTERRICHT IST
•
11
sprache eine vorzügliche Einführung
in die Technik geistigen Arbeitens;
die Kinder können also mit Latein das
Lernen lernen.
Könnten Sie den letzten Aspekt nä–
her erläutern?
Latein erzieht in besonderer Weise zu
einem positiv verstandenen Ord–
nungsdenken. Der Umgang mit die–
ser Sprache ist eine große Hilfe zur
Schulung von Gedächtnis und Auf–
merksamkeit. Man lernt, mehrere
grammatikalische
Erscheinungen
gleichzeitig wahrzunehmen, Struktu–
ren zu durchschauen und auf schein–
bare Nebensächlichkeiten achtzuge–
ben. Damit werden den Schülern Fä–
higkeiten beigebracht, die natürlich
nicht allein für das Fach Latein zu re–
klamieren sind, für deren Vermittlung
der Lateinunterricht aber ganz be–
sonders geeignet ist.
Wie können Eltern erkennen, ob ein
Kind für Latein begabt ist oder nicht?
Eine schwierige Fragel Es gibt so vie–
le verschiedene Theorien über Bega–
bung, daß man bislang keine eindeu–
tigen Hinweise kennt, wann ein Kind
für Latein begabt ist. Man kann hier
8 SCHULE
aktuell
Inwieweit ist mit Latein als erster
Fremdsprache die weitere gymnasia–
le Ausbildung festgelegt?
Wer in der 5. Klasse mit Latein be–
ginnt, legt damit in der Regel den
Grundstein für das Erlernen von zwei
weiteren Fremdsprachen. Das kön–
nen Englisch und Französisch sein,
womit der Schüler das neusprachli–
che Gymnasium besucht. Oie huma–
nistische Ausbildungsrichtung dage–
gen sieht die Sprachenfolge Latein–
Englisch -Griechisch vor. Latein als
erste Fremdsprache ist zudem ein
Kennzeichen des musischen Gymna–
siums. Und schließlich ist es seit kur–
zem auch möglich, an einzelnen ma–
thematisch-naturwissenschaftlichen
Gymnasien mit Latein anzufangen.
Man kann aber Latein auch als zwei–
te Fremdsprache wählen.
Es mag auf den ersten Blick überra–
schend erscheinen, aber die Wahl
der zweiten Fremdsprache in der 7.
Klasse betrifft eine erheblich größere
Zahl von Schülern und Eltern als die
Entscheidung für die erste Fremd–
sprache. Als man in den 60er und
70er Jahren in Bayern ein flächen-
deckendes Netz an Gymnasien
schu~
war es meist so, daß Gymna–
sien mit Englisch als erster Fremd–
sprache eingerichtet wurden. Von
daher ist vielen Eltern die Qual der
Wahl hinsichtlich der ersten Fremd–
sprache von vornherein abgenom–
men. Allerdings muß man sich dann
entscheiden, ob man in der
7.
Jahr–
gangsstufe Latein oder Französisch
als zweite Fremdsprache nimmt.
Was ist bei dieser Wahl zu beach–
ten? Welche Argumente sprechen
hier für Latein?
Wenn die Entscheidung zugunsten
von Französisch ausfällt, dann ist da–
mit ein Ausbildungsweg mit zwei
mo–
dernen Fremdsprachen
vorgezeich~
net. Wird dagegen Latein als zweite
Fremdsprache gewählt, kommt das
Kind in einen Sprachunterricht, der:
sich bemüht, dem iungen Mensche
die Weft der Geschichte und Kultur
zu erschließen. Mit Latein als zweiter
Fremdsprache hält man sich außer–
dem bis zur 9. Jahrgangsstufe die
Entscheidung oHen, ob man noch ei–
ne dritte Fremdsprache erlernen will.
Ein Wechsel von der mathematisch–
naturwissenschaftlichen in die neu–
sprachliche Ausbildungsrichtung und
umgekehrt ist also für den Schüler
ohne weiteres möglich.
Heute wird gerne gefragt: Cui bo–
no?, das heißt, wofür lerne ich das?
Was würden Sie da im Fall von La–
tein antworten?
Neben den schon genannten Vorzü–
gen erscheint mir besonders wichtig,
daß der Lateinunterricht wesentlich
dazu beiträgt, die geistesgeschicht-
~"\
Iichen Zusammenhänge der abend
'lj
ländischen Weft zu verstehen. Nicht
selten kann man gerade von hochka–
rätigen Vertretern der Naturwissen–
schaften und der Technik hören, daß
sie die Kenntnisse aus ihrem Latein–
unterricht nicht missen möchten, weil
sie hier einen Hintergrund erhalten
hätten, der sich bei ihrer naturwissen–
schaftlichen Arbeit immer wieder po–
sitiv bemerkbar mache. Darüber hin–
aus spricht auch ein eher pragmati–
scher Grund für Latein. Die Studien–
gänge für das Lehramt an den Gym–
nasien z. B. in den Fächern Deutsch,
Englisch, Französisch, Geschichte
oder Religion verlangen als Zulas–
sungsvoraussetzung für das Staats–
examen das Latinum. Und wer im
geisteswissenschaftlichen Bereich ei–
nen akademischen Grad wie Magi–
ster oder Doktor anstrebt, muß eben–
falls Lateinkenntnisse vorweisen.