Table of Contents Table of Contents
Previous Page  26 / 64 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 26 / 64 Next Page
Page Background

Hitlers

Mein Kampf

– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit

26

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16

Mein Kampf

als

autobiografische Schrift

„Hitler stand vor dem Nichts, als er 1924 an

Mein Kampf

zu schreiben begann.“ 

42

Er befand sich nämlich in einer

schier aussichtslosen Lage. Nach dem kläglichen Scheitern

des Putsches in München und seiner Verurteilung schien

trotz der milden Strafe seine politische Karriere zu Ende.

Diese war sein Lebensinhalt, nachdem er sich ohne Schul-

abschluss in Wien eher schlecht als recht durchgeschlagen

hatte. Zwar ging es ihm aufgrund einer Waisenrente und

einer Erbschaft nicht wirklich schlecht, doch hatten sich

seineTräume, Künstler zu werden, zerschlagen, als er in der

Wiener Akademie abgelehnt worden war. Erst nach dem

Ersten Weltkrieg wurde er politisch aktiv und zunächst in

München und Bayern schnell zu einem beachteten Agita-

tor der völkischen Bewegung. Diese politische Karriere,

zu der er spät gefunden hatte, schien plötzlich zu Ende zu

sein. Die Zeit in der Landsberger Haft, in der Hitler ein

komfortables Leben führte, ermöglichte ihm somit eine

„Selbstfindung“, indem er sein bisheriges Leben und seine

politischen Überzeugungen, von denen noch die Rede

sein wird, zu Papier brachte. Dabei konnte Hitler seinen

ursprünglichen Lebensplan, Künstler bzw. Baumeister zu

werden, nicht verwirklichen und war gezwungen, sich

einen neuen Lebensentwurf zuzulegen. Seine politische

Weltanschauung hatte dabei laut Andreas Wirsching die

Funktion, seine persönliche und politische Authentizität

zu bekräftigen.

43

„Im Elternhaus“ – der Beginn von

Mein Kampf

Wie sehr bei ihm Persönliches und Politisches miteinan-

der verwoben waren, zeigt sich schon zu Beginn seines

Buches. Das erste Kapitel „Im Elternhaus“ beginnt so:

„Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das

Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn

zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener

zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung min-

destens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durch-

zuführende Lebensaufgabe erscheint!“ 

44

Auffallend ist

dabei, dass Hitler seinen Geburtsort politisch funktiona-

lisiert, indem er daraus eine „Bestimmung“ ableitet. Es

42 Hartmann u.a. (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 25. Welchen „Entwurf einer Lebens-

geschichte“

Mein Kampf

bietet, wird ebd., S. 30–34, erläutert.

43 Vgl. Andreas Wirsching: Hitlers Authentizität. Eine funktionalistische

Deutung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), S. 387-417.

44 Es handelt sich um den Beginn von

Mein Kampf.

geht nicht um die Person Adolf Hitler, sondern um den

vom Schicksal auserwählten politischen „Führer“. Dazu

passt auch der an der Bibel orientierte „Sprachduktus“,

auf den der Kommentar der kritischen Edition hinweist.

Diese Zuspitzung der persönlichen Biografie auf den

politischen Werdegang führt zu einer ausschweifenden

Darstellung seiner Weltanschauung, deren Glaubwür-

digkeit durch die eigenen Lebenserfahrungen beglaubigt

werden soll. So „finden sich bereits in den ersten 200

Worten sämtliche Kernelemente von Hitlers politischer

Philosophie“.

45

Typisch für Lebensbeschreibungen ist die „autobiogra-

fische Illusion“ (Pierre Bourdieu), das heißt die nachträg-

liche Stilisierung des eigenen Lebensweges, indem man-

ches einseitig dargestellt oder ganz weggelassen, manches

ausgeschmückt oder gar hinzuerfunden wird. Gleichwohl

ist Hitlers Lebensbeschreibung von Interesse, da es wenige

Informationen über seine frühen Jahre gibt und er auch

später sorgsam darauf bedacht war, die Informationen

über seine Herkunft zu kontrollieren. Seine Angaben sind

mit Vorsicht zu genießen und kritisch zu hinterfragen.

46

Die kritische Edition ist hierfür vorzüglich geeignet, da

Hitlers Text mit den Kommentaren unmittelbar vergli-

chen werden kann.

Die folgenden Beispiele zeigen, dass Hitler zum einen

eine unzutreffende Darstellung seiner Meldung als Kriegs-

freiwilliger gibt, sich zum anderen zum begeisterten und

tapferen Soldaten stilisiert, mithin zum Kriegshelden.

Schließlich führt er seinen Antisemitismus auf die Erfah-

rungen in Wien zurück, was, wie der Kommentar zeigt,

zumindest eine rückblickende Stilisierung ist. Hitler prä-

sentiert sich in

Mein Kampf

publikumswirksam als früh

gefestigter und unbeirrbarer politischer „Führer“.

45 Gregor (wie Anm. 40), hier S. 3.

46 Kershaw (wie Anm. 18), S. 22, verweist auf das „schwarze Loch des Privat-

manns Hitler“; Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre einer Diktators,

München 1998, S. 8, spricht von einer „desolaten Quellenlage“.