Materialien
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16
Hitlers
Mein Kampf
– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit
Neil Gregor: Ein unlesbares Buch?
Schwieriger ist es, den Tropus [weit verbreitete Vorstellung, UB] der Unlesbarkeit des Textes zu vertreiben.
Doch selbst wenn wir für einen Moment der weit verbreiteten Behauptung folgen, die meisten Leser und
Leserinnen hätten das Buch zu Tode gelangweilt nach wenigen Seiten beiseitegelegt, erkennen wir, dass dies für
die angebliche Unkenntnis der Inhalte nicht ausreicht. Denn wie eine selbst oberflächliche Lektüre der Ein-
gangsseite zeigt, finden sich bereits in den ersten 200 Worten sämtliche Kernelemente von Hitlers politischer
Philosophie [Es folgt der auf der Seite davor zitierte Ausschnitt aus dem I. Kapitel „Im Elternhaus“, s. S. 27]
Wie lässt sich dies als grundlegende Aussage einer politischen Philosophie verstehen? Zunächst – und ganz
offensichtlich – artikuliert sich hier eine Obsession mit dem Thema „Rasse“: Außenpolitik müsse aus rassi-
schen Notwendigkeiten erfolgen – und nicht etwa aus wirtschaftlichen Überlegungen; die Zugehörigkeit zu
einer Nation werde durch Blutsbande verliehen; die Grenzen eines Staates sollten sämtliche Angehörige der
Rasse einschließen. Der Staat, so die deutliche Schlussfolgerung, habe nicht den Interessen einer herrschenden
Dynastie (dem Kaiser oder König) zu dienen, sondern den Bedürfnissen einer Nation als Ganzes. Mit anderen
Worten: Was hier eingeführt wird, ist eine populistische [Text an dieser Stelle gekürzt, UB] Sicht auf Politik;
Hitlers Politik, so verstehen wir sofort, ist neu.
Die Aufgabe des Staates sei es darüber hinaus, die Angehörigen der „Rasse“ zu ernähren – und ist dies nicht
länger möglich, so habe der Staat das Recht, eine Politik der Expansion anzustrengen. Diese Expansion solle
nicht etwa durch den Erwerb von Kolonien in Übersee realisiert werden, sondern dadurch, Nachbarterritorien
des Vaterlands zu erobern. Eine solche Expansion könne und müsse mit militärischen Mitteln erfolgen und
werde die Basis für die Lebensnotwendigkeiten des Volkes sichern.
Die Kernelemente aus Hitlers Philosophie werden also in den ersten zwei Absätzen deutlich formuliert –
mit Ausnahme einer ausdrücklichen Erwähnung von Juden. Im Verlauf nur weniger Seiten tauchen jedoch
auch erkennbar antisemitische Formulierungen auf, die für jeden zeitgenössischen Leser unmittelbar als solche
verständlich waren. Das Buch enthält also alles andere als den unlesbaren Text, den gewöhnliche Deutsche wie
viele Historiker im Nachhinein behaupteten, darin zu sehen. Jeder, der nur wenige Seiten darin las, konnte
deutlich erkennen, wofür das Buch und sein Autor standen.
Auszug aus: Neil Gregor: „Mein Kampf“ lesen, 70 Jahre später, in: APuZ 65 (2015), H. 43–45 (19.10.2015), S. 3–9 [engl. Quelle: Neil Gregor, How to
Read Hitler, London 2014].
Methodische Anregungen:
Der Beginn von
Mein Kampf
eignet sich aus verschiedenen Gründen für die historisch-politische Bildung. Zum einen
bietet es sich an, die Schülerinnen und Schüler den Beginn eines Lebenslaufs verfassen zu lassen, um dann im Vergleich
mit Hitlers Text deutlich zu machen, dass er keine Autobiografie im engeren Sinn schreibt, sondern seinen zufälligen
Geburtsort als Beglaubigung für seine politische Sendung benutzt. Zum anderen enthält die Anfangspassage bereits
zentrale Vorstellungen seiner Weltanschauung. Dies kann direkt aus dem Text oder auch anhand der Interpretation von
Neil Gregor erarbeitet werden.
Leitfragen:
Welche biografischen Informationen nennt Hitler?
Welche politischen Ziele formuliert Hitler in seinem Text?
Welche politischen Ziele Hitlers arbeitet Neil Gregor in seiner Analyse heraus?
Wieso ist laut Gregor die Behauptung falsch, Hitlers Buch sei unlesbar gewesen?