Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 3

Max Streibl, Bayerischer Ministerpräsident von 1988
1993
Abbildung: ullstein bild –AP
lassen, je nachdem ob man ihre Autonomie, ihre Wirt-
schaftskraft oder ihre Identität, um nur einige Beispiele zu
nennen, in den Vordergrund rückt.
DieVision eines „Europa der Regionen“
Das „Europa der Regionen“ ist empirisch schwer in feste
Konturen zu pressen und in historischer Perspektive stän-
dig in Bewegung. Dennoch entstand in Deutschland in den
1980er-Jahren die Vision eines „Europa der Regionen“. Wie
kam es dazu? In den achtziger Jahren wurde den Europäern
erstmals deutlich bewusst, welche Kraft die wirtschaftliche
Globalisierung zu entfalten imstande war. Die damalige ja-
panische Hochtechnologieherausforderung machte einer
breiteren Öffentlichkeit klar,
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dass neben dem Wirtschafts-
raum USA nun neue Wirtschaftsräume entstanden waren,
v. a. der asiatische. Dies veranlasste die europäische Politik,
sich stärker auf die Potenziale der EG zu besinnen und mit
der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte
1986 einen Prozess einzuleiten, der zur Vollendung des Eu-
ropäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 führte.
Diese Stärkung der EG schien ein weiterer Schritt
zur Entmachtung der Nationalstaaten in Europa. Gleich-
zeitig verstärkte die EG ihre Regionalpolitik und erkannte
in diesem Zusammenhang die europäischen Regionen als
Partner an. Aus der Sicht der Regionen erforderte der gren-
zenlose Binnenmarkt eigene industriepolitische Initiativen,
um Arbeitsplätze und Firmen in den Regionen zu halten.
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Es schien so, als löse die regionale ökonomische Konkur-
renz im erweiterten Binnenmarkt die nun nicht mehr vor-
dringliche nationale ökonomische Konkurrenz ab.
Die politischen Folgen der geänderten europapoli-
tischen Konstellation wurde von dem 2011 verstorbenen
amerikanischen Soziologen Daniel Bell in dem Bonmot zu-
sammengefasst: Der Nationalstaat ist zu klein für die gro-
ßen Probleme und zu groß für die kleinen Probleme heuti-
ger Gesellschaften.
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Der damalige Bundespräsident Richard
von Weizsäcker formulierte 1991 den gleichen Gedanken
differenzierter: „Es gibt nicht das Ende des Nationalstaats
um seiner selbst willen. Es gibt aber ein für jeden erkenn-
bares Bündel von Hauptaufgaben für Gegenwart und Zu-
kunft, deren Lösung im Nationalstaat nicht erreichbar ist.
Wir werden überhaupt nicht darum herumkommen, suk-
zessive Entscheidungsbefugnisse auf übernationale Organi-
sationen zu übertragen oder in übernationalen Strukturen
zu vereinen. Daneben gibt es ein primär menschlich und
seelisch begründetes Bedürfnis nach Verankerung, das sich
in vielen Teilen Europas, ja vor allem in den Regionen er-
füllt.“
7
Der bayerische SPD-Politiker Peter Glotz veröf-
fentlichte zu diesem Thema ein Buch mit dem Titel: „Der
Irrweg des Nationalstaats“.
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In der wissenschaftlichen Lite-
ratur wurde ein „Sandwich-Modell“
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diskutiert, wobei der
Nationalstaat in der Mitte des Sandwichs von der europäi-
schen und regionalen Ebene flankiert bzw. eingeklemmt
werde.
In der politischen Praxis griffen die Ministerpräsi-
denten Bayerns, Max Streibl, und Baden-Württembergs,
Lothar Späth, den Gedanken der Neupositionierung der
deutschen Länder in einem „Europa der Regionen“ auf.
4 Populärwissenschaftliche Publikationen dieser Zeit trugen Titel wie „Arbeitsstaat Japan“ (von Ariane Dettloff und Hans Kirchmann, Rein-
bek 1981) oder „Auto-Großmacht Japan“ (hg. von Werner Meyer-Larsen, Hamburg 1980).
5 Vgl. Ulrich Jürgens, Wolfgang Krumbein (Hg.): Industriepolitische Strategien. Bundesländer im Vergleich, Berlin 1991; Roland Sturm: Die
Industriepolitik der Bundesländer und die europäische Integration, Baden-Baden 1991.
6 Daniel Bell: Previewing Planet Earth in 2013, Washington Post, 3. Januar 1988, S. B3.
7 Zitiert nach Sturm 1991 (wie Anm. 5).
8 Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaats, Stuttgart 1990.
9 Vgl. Thiemo W. Eser: Europäische Einigung, Föderalismus und Regionalpolitik, Trier 1991.
Europa der Regionen
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