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Europa der Regionen
Einsichten und Perspektiven 2 | 13
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Europas regionaleVielfalt
Vielfältig sind nicht nur die Regionen Europas in ihrer Ge-
schichte, ihren Sprachen, ihrer Kultur und ihrer staats-
rechtlichen Stellung. Vielfältig ist auch die Definition des-
sen, was eine Region ausmacht. Größe alleine kann kein
Kriterium für eine Region sein. Bayern, beispielsweise, als
Region bzw. Land in Deutschland ist in einer Liga bzw. Rei-
he von Mitgliedstaaten der Europäischen Union bzw. sogar
größer als manche. Heutige Wirtschaftsregionen haben an-
dere Grenzen als historische Regionen, zum Beispiel die
Reichskreise. In der wissenschaftlichen Diskussion bleibt
der Begriff der Region umstritten.
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Für die folgenden Aus-
führungen wird die pragmatische Entscheidung getroffen,
zum einen nur Regionen in den EU-Staaten zu betrachten
und zum anderen alle staatsrechtlichen Formen der Dezen-
tralisierung als Ausdruck einer Anerkennung der regiona-
len Dimension von Politik zu verstehen.
Auch nach dieser pragmatischen Entscheidung
bleibt die EU eine bunte regionale Landschaft. Zwar leben
deutlich mehr als die Hälfte der EU-Bürgerinnen und EU-
Bürger nicht in Einheitsstaaten. Deren Zahl (18) übertrifft
aber die Zahl der regionalisierten EU-Mitgliedstaaten (10).
Wo wir Regionalisierung finden, öffnet sich zudem ein wei-
tes Spektrum der politischen Qualität von Regionen. Nur
drei EU-Staaten bekennen sich in ihrer Verfassung zum Fö-
deralismus: Belgien, Deutschland und Österreich. Dies
muss aber keine Verpflichtung zu innerstaatlicher Vielfalt
und regionaler Kooperation bedeuten. Deutschland und
Österreich praktizieren einen stark einheitsstaatlichen Fö-
deralismus, trotz deutlich entwickeltem Regionalbewusst-
sein.
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In Belgien ist der Föderalismus angesichts des unge-
lösten Verfassungsstreits zwischen Flamen und Wallonen,
insbesondere um Brüssel und einige Vororte, wohl eher ein
Durchgangsstadium zu einer loseren Konföderation. Drei
EU-Staaten lassen sich als „regionalisiert“ beschreiben, mit
Kompetenzzuweisungen an die Regionen, v. a. in Spanien
und im Vereinigten Königreich, die über die Möglichkeiten
deutscher Länder hinausreichen. Hier, wie in Italien, wo die
Dezentralisierung in erster Linie der Modernisierung der
Staatsorganisation dienen soll, ist der Prozess der Dezen-
tralisierung noch nicht abgeschlossen. Wo, wie in Belgien,
im Vereinigten Königreich oder in Spanien sich einige Re-
gionen als Nationen begreifen, stehen auch ganz grundsätz-
liche Fragen der nationalen Identität und der nationalen
Selbstbestimmung auf der Tagesordnung. Zum Typus der
dezentralisierten Staaten gehören Frankreich, Polen und
mit Abstrichen Tschechien und Ungarn. In all diesen Län-
dern ist die Dezentralisierung ein Mittel durch die Einbin-
dung der regionalen Bevölkerung die Erledigung von
Staatsaufgaben besser zu organisieren, wobei zum Teil auf
historische Regionen zurückgegriffen werden kann. Wäh-
rend in Frankreich und Polen dies auch zu einer Verbesse-
rung der Handlungsfähigkeit des Zentralstaats führte, bleibt
die politische Unterstützung für Dezentralisierungsforde-
rungen in Ungarn und Tschechien begrenzt.
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Zur regionalen Realität müssen heute auch die
Stadtregionen (
City Regions
) oder Metropolregionen ge-
zählt werden. Sie entstanden aus kommunalenWurzeln, ha-
ben aber inzwischen weiterreichende territoriale Aufgaben
und entwickeln ihre Dynamik v. a. aus der Zuwanderung in
Ballungsräume. Auch diese koordinieren sich auf europäi-
scher Ebene, beispielsweise im Netzwerk EUROCITIES
der europäischen Großstädte mit mehr als 250.000 Einwoh-
nern. Für alle Formen von Regionen gilt, dass sie sich in ei-
nem Spektrum ganz unterschiedlicher Merkmale verorten
1 Für viele Wolfgang Wüst, Werner K. Blessing (Hg.): Mikro-Meso-Makro. Regionenforschung im Aufbruch, Erlangen 2005 (= Arbeitspa-
pier Nr. 8 des Zentralinstituts für Regionenforschung).
2 Roland Sturm, Dieter Roth, Julia Oberhofer, Julia Stehlin, Felix Wille: Landesbewusstsein und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse: Das
Föderalismus-Paradox, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2010, Tübingen
2010, S. 29−40.
3 Ausführlicher zu Europas regionaler Vielfalt: Roland Sturm, Jürgen Dieringer (Hg.): Regional Governance in EU-Staaten, Opladen, Far-
mington Hills, MI. 2010; Roland Sturm: Föderalismus,
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Baden-Baden 2010.
Tabelle 1: Europas regionaleVielfalt
Föderale Staaten (3)
Belgien
Deutschland
Österreich
Regionalisierte Staaten (3)
Italien
Spanien
UK
Dezentrale Staaten (4)
Frankreich
Polen
Tschechien
Ungarn
Einheitsstaaten (18)
Bulgarien
Dänemark
Estland
Finnland
Griechenland
Irland
Kroatien
Lettland
Litauen
Luxemburg
Malta
Niederlande
Portugal
Rumänien
Schweden
Slowakei
Slowenien
Zypern
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