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Einsichten und Perspektiven 4 | 17
zogen werden konnten. Diese zarische Order erwies sich
als der Funke, der den angehäuften sozialen Sprengstoff
in Zentralasien zur Explosion kommen ließ. Die Peters-
burger Regierung schickte schließlich reguläre Militär-
verbände gegen die Aufständischen in den Kampf; mehr
als 200.000 Menschen kostete der bürgerkriegsähnliche
Gewaltorkan das Leben.
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Die fortgesetzten Kriegswirren setzten der russischen
Wirtschaft schwer zu. Infolge der Einberufungen fehlte es
an Arbeitskräften. Auch die russische Eisenbahn konnte
den kriegsbedingten Mehrtransport kaum mehr bewälti-
gen. Es gelang noch nicht einmal, die Lebensmittelströme
so umzulenken, dass die russischen Industriestädte und
die Front genügend Brot, Fleisch und Gemüse erhielten.
Die vielen Kriegsausgaben versuchte die Regierung, durch
Steuererhöhungen, eine wachsende Auslandsverschuldung
und die massive Steigerung des umlaufenden Papiergelds
zu finanzieren. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr
stieg daher die Inflationsrate. Das setzte vor allem den
Arbeiterfamilien enorm zu, die kaum mehr das Nötigste
zum Leben erstehen konnten.
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Der patriotische Konsens zerbrach; die im Taumel der
anfänglichen Kriegsbegeisterung stillgelegten Konflikte
brachen in aller Schärfe wieder auf. Angesichts ausbleiben-
der militärischer Erfolgsmeldungen kippte die Stimmung.
Kriegsmüdigkeit und Niedergeschlagenheit, Gleichgültig-
keit und Verzweiflung schlugen in Unruhe und Aufruhr-
bereitschaft um. Seit dem Sommer 1915 kam es erneut
zu massiven Arbeitsniederlegungen; eine Streikbewegung
etablierte sich, die in der Folgezeit immer größere Aus-
maße annahm.
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Nicht nur in der Arbeiterschaft, sondern auch in den
Eliten braute sich immer mehr Unmut zusammen, weil
Nikolaj II. als Herrscher ein denkbar schlechtes Bild
abgab. Wiederholt bildete er die Regierung um; das
brachte aber keine Lösung, sondern schuf nur neue Prob-
leme. Skandalgeschichten rund um den Zarenhof, in die
meist der angebliche Wunderheiler Rasputin verwickelt
20 Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Auf-
stand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010; Cloé Drieu: Turkestan, in:
1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Ber-
lin 2016-01-20. DOI: 10.15463/ie1418.10810 (https://encyclopedia.1914-
1918-online.net/article/turkestan[Stand: 22.09.2017]).
21 Zu den Wirtschaftsproblemen vgl. McKean (wie Anm. 8), S. 339-349;
Gatrell (wie Anm. 16), S. 108-175; Peter Holquist: Making War, Forging
Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge/Mass.
2002, S. 12-46.
22 McKean (wie Anm. 8), S. 375-429; Bernd Bonwetsch: Die Russische Revo-
lution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum
Oktoberumsturz, Darmstadt 1991, S. 109-119.
war, vermittelten immer mehr den Eindruck, dass der Zar
und die von seinen Launen abhängige Regierung längst
nicht mehr in der Lage seien, die Staatsverwaltung zu
organisieren, die Politik vernünftig zu gestalten und den
Krieg zu gewinnen. Der Konflikt mit der Reichsduma
eskalierte. Selbst zuvor zarentreue Abgeordnete schlossen
sich zum lager- und parteiübergreifenden „Progressiven
Block“ zusammen, um die Forderung zu erheben, Niko-
laj II. solle endlich mit Beteiligung der Reichsduma eine
kompetente Regierung bilden. Als glückloser Kriegsherr,
überforderter Krisenmanager und uneinsichtiger Autokrat
hatte sich Nikolaj II. ins politische Abseits manövriert.
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Am 3. Februar 1917 beklagte der weithin angesehene
liberale Fürst Georgij L’vov (1861-1925) in einem auf-
rüttelnden Brief an den Zaren: „In der Zeit, als unsere
Armee ohne Munition genötigt war, sich vor dem Feind
zurückzuziehen, sah die Regierung mit unverändertem
Misstrauen in der patriotischen Bewegung des Volkes eine
Gefahr für die Staatsordnung.“ Obwohl die Wirtschaft in
ein völliges Chaos gestürzt sei, bemühe sich die Regierung
weiterhin nicht um das Allgemeinwohl. Deshalb erweise
sich „die Isolierung der Staatsgewalt“ und ihre Entfrem-
dung vom Volk zunehmend als „verhängnisvoll“.
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Zu allem Unglück hatte das Jahr 1916 mit einem beson-
ders unerbittlichenWinter geendet. Kälte und Hunger setz-
ten den Menschen schwer zu. Die Verteilungskrise schlug
in einen akuten Versorgungsnotstand um. Seuchen und
Krankheiten breiteten sich rasch aus; immer mehr Solda-
ten desertierten und schlossen sich zu marodierenden Ban-
den zusammen. Der Krieg zerrüttete das Imperium und
beschwor einen zivilisatorischen Zusammenbruch herauf.
Die Welt geriet komplett aus den Fugen; das Kriegsgesche-
hen erschien nur noch als sinnloses Theater des Schreckens.
Die Zeitungen beschrieben eine Stimmung der Verzweif-
lung und äußerten in ihren Neujahrsartikeln die Vorah-
nung, dass die schon viel zu lang fortdauernden Konfusi-
onen und Spannungen im Verlauf des Jahres 1917 – auf
welche Weise auch immer – ein Ende finden würden. Die
Geheimpolizei prognostizierte in ihren Berichten sogar den
baldigen Ausbruch von Hungerrevolten. Die Zerreißprobe
des Weltkriegs endete – so die zeitgenössischen Deutungen
– in einem sich zuspitzenden gesellschaftlichen und poli-
23 Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Re-
volution 1891 bis 1924, München 2001, S. 307-315; Tsuyoshi Hasega-
wa: The February Revolution: Petrograd, 1917, Seattle 1981, S. 145-197;
Dominic Lieven: Nicholas II. Emperor of all the Russias, London 1993, S.
204-232; Melissa K. Stockdale: Paul Miliukov and the Quest for a Liberal
Russia, 1880-1918, Ithaca 1996, S. 221-237.
24 Zit. n. Nolte u.a. (wie Anm. 9), S. 281.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3