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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3

Der Russisch-Japanische Krieg und die sich daran anschließende erste Russi-

sche Revolution hatten das Zarenreich 1905 in seinen Grundfesten erschüttert

und tiefe Spuren hinterlassen. Mit einer Politik von „Zuckerbrot und Peit-

sche“ gelang es der Regierung, die Lage allmählich wieder unter Kontrolle

zu bringen. Aber ein zukunftsweisender Stabilisierungskurs zeichnete sich

weiterhin nicht ab. In seinem autokratischen Starrsinn verstand Nikolaj II. die

Zugeständnisse an die sich politisch organisierte Gesellschaft als Nötigung

und sah darin keinen Neuanfang. Er erkannte nicht, dass die althergebrachte

dynastische Herrschaft längst ihre Selbstverständlichkeit verloren hatte und

am Ende ihrer Epoche angekommen war. Die mit dem Oktobermanifest von

1905 in Aussicht gestellte Entstehung einer modernen parlamentarischen

Ordnung versandete darum bald in einem „Scheinkonstitutionalismus“; der

Abbruch der verfassungsstaatlichen Entwicklung verhinderte ein produktives

Miteinander von Zar und Parlament sowie von Staat und Gesellschaft.

Die politischen Polarisierungs- und Radikalisierungs-

prozesse konnten so nicht gestoppt werden; die erhoffte

dauerhafte Dämpfung öffentlichen Unmuts und gärender

Prozesse stellte sich keineswegs ein. Die Arbeiterschaft

blieb ein sozialer Fremdkörper. Auch die Bauern, die über

80 Prozent der russischen Bevölkerung stellten, fühlten

sich trotz einzelner Reformversuche unterdrückt und ent-

fremdet. Das resultierte nach 1912 in einer neuen Welle

von ländlichen Unruhen und städtischen Streiks, wie sie

damals keine andere europäische Großmacht erlebte.

Die fortdauernden innenpolitischen Probleme gingen

mit außenpolitischen Spannungen einher und potenzier-

ten sich wechselseitig. Eigentlich hätte die russische Regie-

rung aus der bitteren Erfahrung von 1905 die Lehre ziehen

müssen, dass sie die Existenz der alten Ordnung in Frage

stellte, wann immer sie das Risiko eines Kriegs auf sich

nahm. Dennoch ließ sich der Zarenhof weiter leichtsinnig

auf imperialistische Machtspiele ein, nicht zuletzt, weil

er sich von der liberalen Opposition, den rechtsextremen

Kreisen in der Reichsduma sowie der russischen Öffent-

lichkeit unter Druck gesetzt fühlte, Stärke zu demonstrie-

ren, um die Schmach des verlorenen Russisch-Japanischen

Kriegs wettzumachen und das Ansehen Russlands in der

Arena der Weltpolitik erneut zu stärken. Diese herbei-

gesehnten Erfolge in der Außenpolitik sollten zugleich

dazu dienen, Reformstau und Verfassungsdilemma im

Inneren zu übertünchen. Der unbeirrte Wille Petersburgs

zur Weltgeltung führte zur Realisierung kostspieliger Rüs-

tungs- und Flottenpläne, die Mittel absorbierten, die für

eine umsichtige Reform im Inneren dringend benötigt

worden wären.

1

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

Dabei fürchtete Nikolaj II. den Horror des moder-

nen Kriegs. Davon hatte ihn vor allem der aus ärmli-

chen jüdisch-ostpolnischen Verhältnissen kommende

1 Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammen-

hang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914, Göttingen 1977,

S. 189-220; Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter

bis zur Oktoberrevolution, München 2013, S. 1084-1119.

Bewaffnete Revolutionäre in Petrograd 1917

Foto: sz-Photo