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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Für den einer liberalen Aristokratenfamilie entstam-

menden Nabokov (den Vater des später weltbekannten

Schriftstellers Vladimir V. Nabokov) war wie für die meis-

ten Abgeordneten der Reichsduma der Sturz des Zaren ein

Akt der nationalen Selbstbehauptung gewesen, um endlich

den Krieg zu einem siegreichen Ende zu bringen und mit

grundlegenden Reformen einen demokratisch verfassten

Verfassungs- und Rechtsstaat zu schaffen. Für die Arbei-

ter- und Bauernschaft hingegen bedeuteten Freiheit und

Demokratie nichts anderes als die Befreiung von Krieg

und Unterdrückung. Sie wollten keineswegs nur politische

Reformen, sondern eine soziale Revolution, um ihre Vor-

stellungen von Gerechtigkeit zu realisieren. Es war nur eine

Frage der Zeit, bis diese unterschiedlichen politischen Ziele,

die in gleichlautenden Slogans verpackt waren, als Wider-

sprüche zutage treten und der friedlichen Nachbarschaft im

Taurischen Palast ein Ende bereiten sollten.

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Krisen und Fehler der Provisorischen Regierung

Diese Provisorische Regierung gebot zwar formal über die

Macht, verfügte aber kaumüber dieMittel zurUmsetzung ihrer

Entscheidungen. Nach der revolutionären Erhebung hatten

sich die aufständischen Arbeiter in Petrograd bewaffnet. In und

35 Zu den unterschiedlichen Erwartungen vgl. Figes (wie Anm. 23), S. 379-

396.

umdieHauptstadt herumwaren zudem250.000 Soldaten sta-

tioniert, die mit ihrer militärischenMacht jederzeit in das poli-

tische Geschehen eingreifen konnten. Mehrheitlich erkannten

diese Truppenverbände nicht die Autorität der Provisorischen

Regierung an, sondern fühlten sich dem Petrograder Arbei-

ter- und Soldatenrat verpflichtet. Dieser wiederum war dank

der Kontrolle der Eisenbahnen, Telegraphen und Zeitungen

jederzeit dazu in der Lage, das gesamte Land lahm zu legen.

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Die Provisorische Regierung befand sich darum von

Beginn an in der Defensive. Die ihr unterstehenden staat-

lichen Bediensteten arbeiteten zwar weiter, aber sie wuss-

ten eigentlich nicht, wer ihnen gegenüber weisungsbefugt

war. Die Doppelherrschaft sorgte für Irritationen und

Kompetenzstreitigkeiten, die das administrative Gesche-

hen oftmals lähmten. Die öffentlichen Dienste arbeite-

ten daher nur mehr sehr eingeschränkt; das galt für die

Müllabfuhr und die Kanalisation genauso wie für das

Gesundheitswesen. Krankheiten und Seuchen konnten

sich darum weiter ausbreiten.

Mit seiner „improvisierten“ und „fragilenDemokratie“

37

sah das neue liberal-bürgerliche Februarregime seine

Hauptaufgabe darin, die Lage wieder zu stabilisieren, für

36 Jörg Baberowski/Robert Kindler/Christian Teichmann: Revolution in Russ-

land 1917-1920, Erfurt 2007, S. 15 f.

37 Manfred Hildermeier: Russische Revolution, Frankfurt am Main 2004, S.

16. Von einer „Notstandsdemokratie“ sprach Geyer (wie Anm. 25), S. 67.

Das erste Kabinett der provisorischen Regierung nach der Abdankung des Zaren: in der Mitte Alexander Kerenskij, Justizminister, und Fürst Georgij L’vov,

Ministerpräsident und Innenminister, 4.v.r. Pavel Miljukov, Außenminister, ganz links Vladimir Nabokov, Vater des Schriftstellers., 12. März 1917

Foto: ullstein bild/Roger-Viollet

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3