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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Die linken Revolutionäre, die für sich in Anspruch

nahmen, die Interessen von Arbeitern, Bauern und Sol-

daten zu vertreten, überließen den liberalen Kräften die

Exekutive. Als parlamentarische Vertretung übernahm

die Reichsduma die Regierungsgeschäfte. Der Fraktions-

vorsitzende der Liberalen, Pavel Miljukov (1859-1943),

gab am 2. März die Liste der neuen Minister bekannt, die

unter der Führung seines Parteifreunds, dem Fürst Geor-

gij L’vov, fortan das russische Staatsschiff durch die stür-

mischen Kriegs- und Revolutionszeiten lenken sollten.

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Innerhalb einer Woche hatten sich nach dem 23. Feb-

ruar die militärischen und politischen Gewichte maß-

geblich verschoben. Ausgehend von der Demonstration

verzweifelter Arbeiterinnen, wehte ein Orkan des Protests

Zar und Minister aus ihren Ämtern. Das Machtzentrum

befand sich nun nicht mehr im Winterpalais, sondern

im Taurischen Palast. In dessen rechten Flügel residierte

die Provisorische Regierung mit der Unterstützung der

Reichsduma. Im linken Flügel bezog der Petrograder

Arbeiter- und Soldatenrat Quartier, der unmittelbar nach

dem erfolgreichen Aufstand als Form der Selbstorganisa-

tion der Streikenden gegründet worden war.

Anfänglich standen die Zeichen im Taurischen Palast

auf Kooperation. Der Arbeiter- und Soldatenrat trat zwar

nicht der Regierung bei und behielt sich das Recht vor, die

Beschlüsse der provisorischen Regierung zu überprüfen.

Aber Rat und Duma bildeten ein Netzwerk von Kom-

missionen, um der nun beginnenden Doppelherrschaft

einen festen Rahmen zu geben. Des Weiteren wurde zur

Gewährleistung einer produktiven Zusammenarbeit Alek-

sandr Kerenskij, der den Menschewiki und den gemäßig-

ten Sozialrevolutionen nahestand, als Justizminister in die

Provisorische Regierung aufgenommen.

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Die revolutionäre Situation prägten ambivalente Erfah-

rungen und Erwartungen. Ganze Truppenteile wie die

Kronstädter Matrosen deklarierten sich im März 1917 zu

„Roten Garden“, die sich als neue Ordnungskräfte aufspiel-

ten. Sie verbündeten sich oftmals mit einer aufgewiegelten

Menschenmenge, um Jagd auf Polizisten und andere ver-

hasste Repräsentanten des alten Zarenregimes zu machen.

Wiederholt kam es zu ungezügelten Gewaltexzessen und

sogar Lynchmorden. Gerichtsgebäude, Polizeistationen und

Gefängnisse wurden gestürmt und die Inhaftierten, selbst

Schwerverbrecher, freigelassen. Eine Woge des Antisemitis-

28 Stockdale (wie Anm. 23), S. 238-249.

29 Zur Etablierung der Doppelherrschaft vgl. Hasegawa (wie Anm. 23),

S. 313-427 u. 519-568; Figes (wie Anm. 23), S. 365-372; Geyer (wie Anm.

25), S. 67-80.

mus brach sich erneut Bahn, weil sich viele von der Pogrom-

hetze politischer Aufwiegler verführen ließen. Bevorzugtes

Ziel von Plünderungen waren Weinkeller und Alkoholla-

ger. Immer wieder versuchten die neuen Machthaber, den

exzessiven Alkoholkonsum zum Schutz der öffentlichen

Ordnung zu kontrollieren, allerdings ohne durchgreifenden

Erfolg. In Petrograd fanden sie schließlich keinen anderen

Ausweg, als große Wein- und Wodkavorräte in den Fluss

zu kippen. Tagelang lag daher ein süßlicher Geruch in der

Luft der Hauptstadt. Angesichts der bedrohlichen Maßlo-

sigkeit eines unkontrollierten Volkszorns prognostizierte

der wegen seiner kritischen Sozialreportagen und revoluti-

onären Theaterstücke weltbekannte russische Schriftsteller

Maxim Gorkij (1868-1936): „Eine unorganisierte Menge,

die kaum weiß, was sie will, wird sich auf die Straße wälzen,

und in ihrem Gefolge werden Abenteurer, Diebe und pro-

fessionelle Mörder die Geschichte der russischen Revolu-

tion machen.“

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Nicht nur Gorkij trieb die Angst um, dass

eine Herrschaft des Pöbels Anarchie und Chaos heraufbe-

schwören könne. Anzeichen dafür gab es allerhand. Die

Brutalität und Massenschlächterei des Kriegs schien sich –

so Gorkij – in einer Barbarei der Revolution fortzusetzen.

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Aber der Umsturz schuf nicht nur Besorgnis und

Furcht; nach dem entbehrungsreichen Winter brach der

Frühling des Jahres 1917 auch mit großem Optimismus

an. Freiheit und Demokratie lagen in der Luft. Ein wei-

ter Horizont vorher ungeahnter politischer Möglichkeiten

eröffnete sich. Über Nacht waren aus Untertanen Bür-

ger geworden; die neue revolutionäre Symbolik brachte

das veränderte Verständnis der Menschen zu Politik und

Gesellschaft zum Ausdruck.

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Maria Pokrovskaja, eine

bekannte Feministin, erklärte: „Russland hat plötzlich eine

neue Seite seiner Geschichte aufgeschlagen und darauf

‚Freiheit‘ geschrieben.“

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Die große Euphorie dieser Tage

beschrieb zutreffend der Liberale Vladimir D. Nabokov

(1870-1922): „Ich erlebte eine nie wiederkehrende seeli-

sche Hochstimmung. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, als

sei etwas Großartiges und Heiliges geschehen, als habe das

Volk seine Ketten abgeworfen und als sei der Despotismus

zusammengebrochen.“

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30 Maxim Gorki: Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution,

Frankfurt am Main 1972, S. 87.

31 Figes (wie Anm. 23), S. 423-429; Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Sta-

lins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 49-52.

32 Orlando Figes/Boris Kolonitskii: Interpreting the Russian Revolution. The

Language and Symbols of 1917, New Haven 1999, S. 30-70.

33 Zit. n. Steinberg (wie Anm. 25), S. 14.

34 Zit. n. Jan Kusber: Kleine Geschichte Petersburg, Regensburg 2009, S. 118.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3