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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

gerieten, suchten die kriegführenden Staaten den Beistand

der Großmächte und machten den Balkan damit immer

mehr zum Pulverfass.

5

Mit der Ermordung des österrei-

chischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische

Attentäter in Sarajevo trat dann am 28. Juni 1914 eine

unheilvolle Eskalationsspirale in Kraft. In der überhitz-

ten Julikrise entfesselten Mobilmachungen schließlich

den Ersten Weltkrieg, der zur „Urkatastrophe“ des 20.

Jahrhunderts werden sollte.

6

Trotz der unüberhörbaren

Stimmen entschiedener Kriegsgegner gab sich die russi-

sche Regierung der Vorstellung hin, die Übermacht der

eigenen Truppen würde dem Zarenreich den Sieg bringen,

um lang gehegte Ziele auf dem Balkan und bei den osma-

nischen Meerengen endlich erreichen zu können.

7

Wie andernorts in Europa wurde auch die russische

Öffentlichkeit von Kriegseuphorie erfasst. Trunken vor

Patriotismus erklärte die einflussreiche Moskauer Zeitung

Moskovskie Vedomosti am 1. August 1914: „Die gesamte

russische Gesellschaft von oben bis unten, angefangen von

der Schicht der Besitzenden bis zu den einfachen Arbeitern,

ist vereint in einem einzigen allgemeinen Gefühl, in einem

einzigen einmütigen Antrieb der Liebe zu ihrer Heimat.“

8

Die Befürchtungen, viele Bauern und Arbeiter würden

ihrer Einberufung nicht Folge leisten, erwiesen sich als halt-

los. In seinen Erinnerungen schrieb der linke Revolutionär

Aleksandr Kerenskij (1881-1970), mit der Kriegserklärung

„geschah ein Wunder. Nichts blieb von den Barrikaden,

von den Straßendemonstrationen, von den Streiks und

überhaupt von der ganzen Revolutionsbewegung. In einer

Stunde wandelte sich die Stimmung eines ganzen Volkes.

Mit einer Pünktlichkeit und Ordnung, die alle überraschte,

5 Katrin Boeckh: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaa-

tenpolitik und ethnische Selbstbestimmung am Balkan, München 1996;

Richard C. Hall: Balkan Wars 1912-1913. Prelude to the First World War,

London 2002; M. Hakan Yavuz/Isa Blumi (Hg.): War and Nationalism. The

Balkan Wars, 1912-1913, and their sociopolitical Implications, Salt Lake

City 2013; Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten

Weltkrieg zog, München

4

2013, S. 318-407.

6 Den heute in Forschung und Publizistik weithin benutzten Begriff der „Ur-

katastrophe“ prägte als Erster der amerikanische Diplomat George Ken-

nan. Vgl. Kershaw (wie Anm. 3), S. 24 f.

7 Eine gute Beschreibung der Eskalation der Julikrise und des gescheiterten

Risikomanagements geben Lieven (wie Anm. 4), S. 313-342; Clark (wie

Anm. 5), S. 475-708; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte

des Ersten Weltkriegs, München

5

2014, S. 84-127; Manfred Hildermei-

er: Ursachen des Ersten Weltkriegs: Russland, in: Horst Möller/Aleksandr

Čubar’jan (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Deutschland und Russland im euro-

päischen Kontext, München 2017, S. 10-19.

8 Zit. n. Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowje-

timperium, München 2017, S. 64 f. Zum Hurrapatriotismus der Arbeiter vgl.

Robert B. McKean: St. Petersburg Between the Revolutions. Workers and

Revolutionaries, June 1907 - February 1917, New Haven 1990, S. 350-366.

vollzog sich die Mobilmachung.“

9

Der Aufruf zum Ver-

teidigungskrieg schien vielerorts im Zarenreich mit einem

hurrapatriotischen Enthusiasmus Einheit zu stiften.

10

Die Zerreißprobe des Ersten Weltkriegs

Nachdem der Kriegsrausch der ersten Monate verflogen

war, ließ der Schrecken des industrialisierten Massenkriegs

viele bald wieder zur Besinnung kommen. Die Zerreiß-

probe des Weltkriegs offenbarte, dass die russische Armee

unter einem rüstungstechnologischen Rückstand litt und

die industrielle Heimatfront bald kaum mehr in der Lage

war, die Streitkräfte mit dem erforderlichen Kriegsgerät zu

versorgen. In seinen Memoiren beklagte General Aleksej

Brusilov (1853-1926), dass sich wegen des akuten Man-

gels an Automobilen und Telegraphenleitungen „das cha-

otische Hinterland für energische Offensiven als ungeeig-

net“ erwies. Zudem befand sich die Krankenversorgung

„noch im embryonalen Zustand“.

11

Darüber hinaus herrschten in der russischen Bau-

ernarmee zwischen Mannschaft und Offizieren oftmals

leibeigenschaftsähnliche Verhältnisse.

12

Viele Soldaten

beklagten sich über harte Körperstrafen, willkürliche

Erschießungen und den menschenverachtenden Einsatz

des einfachen Fußvolks als Kanonenfutter. Dementspre-

chend niedrig waren Disziplin und Motivation der Solda-

ten. Fedor Starunov, ein einberufener Bauer, erinnerte sich

mit Grauen an seine Leidenszeit in der russischen Armee:

„Ich sah, wie unser Kompaniechef einen Soldaten schlug,

ihnmit der Peitsche über den Kopf hieb. Ich sagte mir, wenn

er mich schlagen will, werde ich ihn aufs Bajonett nehmen

und mich verhaften lassen. Ich fragte mich: Wer ist eigent-

lich mein Feind, die Deutschen oder mein Kompaniechef?

Die Deutschen hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen,

aber da stand der Kompaniechef. In den Schützengräben

wurde ich von den Läusen gebissen. Niedergeschlagenheit

bemächtigte sich meiner.“

13

9 Zit. n. Hans-Heinrich Nolte u.a. (Hg.): Quellen zur Geschichte Russlands,

Stuttgart 2014, S. 280.

10 Zur patriotischen Kriegseuphorie im Sommer 1914 vgl. ausführlich Melis-

sa K. Stockdale: Mobilizing the Russian Nation. Patriotism and Citizenship

in the First World War, New York 2016, S. 15-38. Zur Inszenierung des Pa-

triotismus vgl. Hubertus F. Jahn: Patriotic Culture in Russia During World

War I, Ithaca 1995.

11 Zit. n. Aust (wie Anm. 8), S. 84.

12 Zu den Zuständen in der russischen Armee vgl. Werner Benecke: Mili-

tär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland

1874-1914, Paderborn 2006; Dietrich Beyrau: Krieg und Revolution. Rus-

sische Erfahrungen, Paderborn 2017, S. 31-53.

13 Zit. n. Steve A. Smith: Die russische Revolution, Stuttgart 2011, S. 24.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3