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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

tischen Dekompositionsprozess, der die Schubkräfte einer

erneuten Revolution freisetzte.

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Die Februarrevolution

Ähnlich wie 1905 brachte erneut eine große Demons-

tration in Petrograd das Fass zum revolutionären Über-

laufen. Am 23. Februar 1917 bahnten sich verzweifelte

Arbeiterinnen den Weg ins Stadtzentrum, um Brot für

ihre hungernden Familien zu fordern. Ihnen schlossen

sich immer mehr Arbeiter der Putilov-Werke an, die seit

Tagen einen scharfen Konflikt mit der Unternehmens-

leitung austrugen. Die Demonstrierenden beschränkten

ihre Forderungen zunächst noch auf eine verbesserte Nah-

rungsmittelversorgung und die Beendigung des kriegeri-

schen Massengemetzels. Als der Demonstrationszug weit-

gehend unbehelligt von Sicherheitskräften blieb, weiteten

sich die Proteste in den nächsten Tagen lawinenartig aus.

Ein Generalstreik wurde proklamiert; immer mehr Fab-

rikbelegschaften traten in den Ausstand.

Nikolaj II. ordnete daraufhin an, die Unruhen unver-

züglich mit Waffengewalt zu liquidieren. Aber die Trup-

pen widersetzten sich dem Zarenbefehl und liefen zu den

Demonstrierenden über. Sie öffneten sogar ihre Garni-

sonen; die Arbeiter bewaffneten sich. Dem Beispiel Pet-

rograds folgte alsbald Moskau. An der Seite demonstrie-

render Arbeiter stürmten die Soldaten Gerichtsgebäude,

Polizeikasernen und Gefängnisse. Von den beiden Haupt-

städten sprang der Funke dann auf andere urbane Zen-

tren über, so dass es Ende Februar und Anfang März 1917

zu einem revolutionären Flächenbrand kam. Er ließ sich

nicht mehr eindämmen, weil sich die Militärverbände

erstmals weigerten, Aufstände blutig niederzuschlagen.

Das Zarenregime hatte die Verfügungsgewalt über sein

zentrales Macht- und Unterdrückungsinstrument, die

Armee, verloren.

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Nikolaj II. versuchte das Blatt noch einmal zu wenden,

indem er mit einem eilig eingereichten Angebot an die

Reichsduma herantrat, die seit langem geforderten Ver-

fassungsreformen nun anzugehen. Doch die Abgeordne-

ten waren längst zur Einsicht gelangt, der Krieg sei besser

ohne Nikolaj II. zu führen. Als schließlich auch noch die

25 Figes (wie Anm. 23), S. 329-334; Hildermeier (wie Anm. 1), S. 1067-1076;

Dietrich Geyer: Die Russische Revolution, Göttingen

4

1985, S. 55-66;

Christopher Read: War and Revolution in Russia, 1914-22, New York

2013, S. 44-50; Mark D. Steinberg: The Russian Revolution 1905-1921,

Oxford 2017, S. 18 f.

26 Eine detaillierte Beschreibung dieser Ereignisse geben Hasegawa (wie

Anm. 23), S. 215-310; Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der

Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S. 110-132; Sean McMeekin: The

Russian Revolution. A New History, London 2017, S. 95-108.

oberste Militärführung dem Zaren zum Rücktritt riet, um

die Flamme der Revolution eindämmen und die Armee

im Krieg halten zu können, gab der autokratische Starr-

kopf endlich nach. Am 2. März 1917 verkündete Nikolaj

II. in einer pathetisch aufgeladenen Rücktrittserklärung,

zugunsten seines Bruders Michail (1878-1918) auf die

Zarenkrone zu verzichten. Angesichts der Eskalation der

Ereignisse erklärte sich Michail aber nicht dazu bereit,

das politisch bankrotte Erbe seines Bruders anzutreten.

Damit ging die Herrschaft der Romanov-Dynastie wenig

glanzvoll zu Ende. Der Zarismus war an seiner eigenen

Inkompetenz und seinem politischen Dinosaurierdasein

zugrunde gegangen. Mit dem Sturz der zarischen Auto-

kratie brach die Februarrevolution keineswegs urplötzlich

in versteinerte Zustände ein; sie war vielmehr das Resultat

fortschreitender, unter den Bedingungen eines desaströsen

Kriegs in ihre Finalitätsstufe übergehende Entfremdungs-

und Gärungsprozesse.

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27 Hasegawa (wie Anm. 23), S. 431-515 u. 519-568; Pipes (wie Anm. 15),

Bd. 1, S. 528-549; Robert Service: The Last of the Tsars. Nicholas II and the

Russian Revolution, London 2017, S. 21-31.

Die Abdankungsurkunde des Zaren, Maschinenschrift mit

Unterschrift Nikolajs II., 2. (15.) März 1917

Foto: picture alliance / akg

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3