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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Angesichts derartiger Verhältnisse verwundert es nicht,

dass das zahlenmäßig haushoch überlegene russische Heer

im August 1914 bei Tannenberg den deutschen Truppen

unterlag. Anschließend drangen die Streitkräfte der Mittel-

mächte sogar auf russisches Territorium vor.

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Im Sommer

1916 versuchte die zarische Armee, mit einer Offensive

den Sieg noch einmal zu erzwingen; sie konnte das Kriegs-

glück allerdings nicht wenden. An der Ostfront herrschte

eine Patt-Situation.

15

Für seine Kriegsaktionen entrichtete

das Zarenreich einen enormen Blutzoll. Von den insgesamt

15 Millionen russischen Soldaten starben bis zum Februar

1917 fast zwei Millionen; genauso viele Zivilisten kamen

durch die Kampfhandlungen, Hunger, Krankheiten und

Erschöpfung ums Leben. Fünf Millionen russische Solda-

ten waren verwundet oder wurden vermisst; etwa zwei Mil-

lionen gerieten in Kriegsgefangenschaft.

16

Um von den Niederlagen und dem eigenen Versagen

abzulenken, setzten die russischen Machthaber auf eine

14 Gerhard P. Groß (Hg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis,

Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006; Michael S. Neiberg/David Jor-

dan: The Eastern Front 1914-1920. From Tannenberg to the Russo-Polish

War, London 2012, S. 26-83; Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt

1914-1918, Berlin 2013, S. 110-158; Bernhard Bachinger/Wolfram Dor-

nik (Hg.): Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten;

Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, Innsbruck 2013; Pritt Buttar: The

Splintered Empires: The Eastern Front 1917-21, Oxford 2017.

15 Leonhard (wie Anm. 7), S. 473-482; Richard Pipes: Die Russische Revolu-

tion. Bd. 1: Der Zerfall des Zarenreiches, Berlin 1992, S. 415 ff.; Timothy C.

Dowling: The Brusilov Offensive, Bloomington 2008.

16 Smith (wie Anm. 13), S. 23; Peter Gatrell: Russia’s First World War. A

Social and Economic History, Harlow 2005, S. 244-248.

Sündenbockpolitik. Die Mobilisierung für den Krieg

richtete sich immer mehr gegen angeblich feindliche Aus-

länder. Davon betroffen waren im besonderen Maß die

deutschstämmigen Untertanen des Zaren. Die mit Kriegs-

beginn um sich greifende Germanophobie führte mithin

dazu, dass der deutsche Name der Hauptstadt Sankt

Petersburg der russischklingenden Variante Petrograd wei-

chen musste. Die zarische Regierung griff sogar in beste-

hende Eigentumsverhältnisse ein; sie schlug zahlreiche

Unternehmen und Betriebe, die unter deutscher Leitung

standen, neuen Besitzern zu.

17

Jenseits des eigentlichen Frontgeschehens stellte das

russische Militär große Gebiete unter Kriegsrecht und

ordnete die Deportationen potentieller Kollaborateure

an – eine repressive Maßnahme, die neben Deutschen vor

allem Juden traf und pogromartige Formen annahm.

18

Bis 1917 verließen schließlich insgesamt sieben Millionen

russische Untertanen ihre Heimat. Flucht und Vertrei-

bungen wurden damit zur massenhaften Kriegserfahrung.

Die Migrationsströme endeten oftmals in den Städten.

Dort machten die Flüchtlinge bald mitunter ein Drittel

der urbanen Bevölkerung aus. Sie mussten unter schwieri-

gen Verhältnissen um ihr Überleben kämpfen und vergrö-

ßerten zugleich die Nöte der Einheimischen.

19

In Turkestan erschütterte im Sommer 1916 ein Auf-

stand der dortigen Muslime und Nomaden die russische

Kolonialherrschaft. Die von den russischen Neusiedlern

in ihrem Lebensraum hart bedrängten Kasachen, Kirgisen

und Turkmenen erhoben sich, nachdem Nikolaj II. die

Einberufung aller Männer in Turkestan im Alter von 19

bis 45 Jahren angeordnet hatte, damit sie hinter der Front

zu notwendigen Straßen- und Schanzarbeiten herange-

17 Gatrell (wie Anm. 16), S. 176-183; Stockdale (wie Anm. 10), S. 45-74

u. 167-212; Eric Lohr: Nationalizing the Russian Empire. The Campaigns

Against Enemy Aliens during World War I, Cambridge/Mass. 2003; ders.:

Politics, Economics and Minorities. Core Nationalism in the Russian Em-

pire at War, in: Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard (Hg.): Comparing

Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göt-

tingen 2011, S. 518-529; William C. Fuller jr.: The Foe Within. Fantasies of

Treason and the End of Imperial Russia, London 2006.

18 Eric Lohr: The Russian Army and the Jews. Mass Deportation, Hostages,

and Violence during World War I, in: Russian Review 60 (2001), S. 404-

419; Frank Schuster: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden wäh-

rend des Ersten Weltkrieges (1914-1919), Köln 2004; Joshua Sanborn:

Unsettling the Empire. Violent Migrations and Social Disasters in Russia

during World War I, in: Journal of Modern History 77/2005, S. 290-324;

Stefan Wiese: Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt,

Hamburg 2016, S. 241-277.

19 Peter Gatrell: A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World

War I, Bloomington 1999; ders.: Der Krieg, die Flucht und die Nation. Das

Flüchtlingsdrama im Zarenreich und die Folgen, 1914-1920, in: Osteuropa

64/2014, H. 2-4, S. 185-195.

Ein nachträglich koloriertes Foto der deutschen Propaganda zeigt russische

Soldaten, die sich in der Schlacht von Tannenberg ergeben.

Foto: picture alliance/Archiv Neumann

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3