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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Der Aufstieg der Bolschewiki als entschiedene

Oppositionspartei

Der politische Sinkflug der von liberalen und gemä-

ßigten linken Kräften gebildeten Provisorischen Regie-

rung stärkte unweigerlich die radikalen Strömungen. Als

deren entschiedenste Kritiker traten bald die Bolschewiki

politisch in Erscheinung. Die Radikalisierung der Arbei-

terschaft der letzten Jahre hatte ihnen zwar schon vor

1917 eine wachsende Schar fanatischer Anhänger zuge-

trieben. Die streng geführte Kaderpartei stellte hinter den

gemäßigten Menschewiki und Sozialrevolutionären in

der Arbeiterbewegung aber nur die dritte Kraft dar. Bei

der Februarrevolution spielten die Bolschewiki mit ihren

damals knapp 10.000 Mitgliedern darum lediglich eine

Nebenrolle. Ihr politischer Kopf, der als Hardliner, Theo-

retiker und Stratege bekannte Lenin, saß fernab des revo-

lutionären Geschehens in der Schweiz fest. Weil er nicht

mehr nur tatenloser Zuschauer sein, sondern Akteur der

Revolution werden wollte, ging Lenin Anfang April darum

ohne Zögern auf das Angebot der deutschen Reichsfüh-

rung ein, ihn und eine Gruppe weiterer russischer Revolu-

tionäre von Zürich aus in einem Zug über Schweden und

Finnland nach Petrograd zu bringen.

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45 Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd. 2: Die Macht der Bolschewiki,

Berlin 1992, S. 90-96; Robert Service: Lenin. Eine Biographie, München

2000, S. 338-346.

Bei diesem Teufelspakt verband die beiden ungleichen

Partner ein gemeinsames Ziel: die Kriegsniederlage Russ-

lands. Lenin erhoffte sich davon, einen globalen Revolu-

tionsmechanismus in Gang zu setzen; der deutsche Kaiser

hingegen wollte durch die Revolutionierung Russlands

einen Separatfrieden an der Ostfront erreichen, um fortan

alle militärischen Kräfte der Mittelmächte an der West-

front einsetzen zu können. Als Verbindungsmann zwi-

schen den Exilbolschewiki und Berlin fungierte Alexander

Parvus (1867-1923). Der als Israil Helphand in der Nähe

der weißrussischen Stadt Minsk geborene „Freibeuter der

Revolution“

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war schon 1891 nach Deutschland und

sodann in die Schweiz übergesiedelt. Er gründete 1915 in

Kopenhagen eine Import-Export-Firma, über die er den

Bolschewiki – großzügig unterstützt durch die deutsche

Reichsleitung – Millionenbeträge für ihren revolutionären

Kampf zukommen ließ.

Die „Durchschleusung“ Lenins und die deutschen Zah-

lungen sind bis heute Gegenstand verschwörungstheoreti-

scher Debatten. Deren Protagonisten sehen in Lenin einen

deutschen Spion, dessen Aktivitäten Russland ins Chaos

gestürzt und damit sowohl die Kriegsniederlage als auch

die Oktoberrevolution herbeigeführt hätten. Zwar brüs-

tete sich die deutsche Regierungsseite, mit der Finanzie-

rung der Bolschewiki in Russland die politischen Wirren

geschürt zu haben. Genauso wenig wie die konspirativen

Verbindungen ist diese Selbstüberschätzung der Berliner

Politik aber ein Beleg dafür, dass Lenin im deutschen Auf-

trag agiert hätte. Die Bolschewiki investierten die ihnen

auf verschlungenen Wegen zugegangenen Gelder vermut-

lich in den Ausbau ihrer Parteipresse und Propagandaak-

tivitäten. Ihr politischer Aufstieg seit dem Sommer 1917

ist jedoch vor allem darauf zurückzuführen, dass es ihnen

gelang, die Enttäuschungen der Menschen aufzugreifen

und das politische Vakuum auszufüllen, das die Proviso-

rische Regierung mit ihrem fehlschlagenden Kurs aufriss.

Lenin kämpfte nicht für den „deutschen Imperialismus“,

sondern für die Weltrevolution. Das erkannte auch Ber-

lin bald und stellte darum die Unterstützung ein. Es ist

darum eine maßlose Übertreibung und spekulative Ver-

zerrung den „Roten Oktober 1917“ als „gekaufte Revolu-

tion“ zu bezeichnen.

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46 So die griffige Formulierung von Winfried Scharlau/Zbyněk A. Zeman:

Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biographie,

Köln 1964.

47 So z.B. Elisabeth Heresch: Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution.

Biographie, München 2000. Kritisch zuletzt dazu Catherine Merridale:

Lenins Zug. Die Reise in die Revolution, Frankfurt am Main 2017; Gerd

Koenen: Spiel um Weltmacht. Deutschland und die Russische Revolution,

in: Aus Politik und Zeitgeschichte 67/2017, H. 34-36, S. 15-20.

Lenin im Zug auf dem Weg nach Petrograd; Gemälde P.V. Vadilievs

Abbildung: ullsteinbild/Granger, NYC

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3