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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Wahlen für eine

„Konstituierende Versammlung“ vorzubereiten. Allein

dieser erstmals aus freien und gleichen Wahlen hervorge-

henden und damit wahren Volksvertretung gestand die

Provisorische Regierung das Recht zu, eine neue Verfas-

sung zu verabschieden und darauf einen neuen Staat zu

begründen. Unbeirrt hielten die neuen Regierungsvertreter

an ihrem revolutionären Attentismus fest, obwohl schon

bald durchgreifender Aktivismus dringend geboten schien.

Mit seiner Hinhaltetaktik hatte das Februarregime bald die

Geduld breiter Bevölkerungskreise überstrapaziert. Die Pro-

visorische Regierung vermittelte zunehmend den Eindruck,

sie sei ohne einen wirklichen starken Willen zur Macht

mit der Situation überfordert und erweise sich als unfähig,

den politischen Prozess im konstruktiven, zukunftsfähigen

Sinne zu gestalten. Neben der Autorität fehlte es dem Feb-

ruarregime daher bald auch an Legitimität.

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Eine der zentralen Forderungen, für die Arbeiter und

Soldaten im Frühjahr 1917 auf den Straßen demonst-

riert hatten, war die Beendigung des Kriegs. Ungeachtet

des großen Friedenswunsches wollte der neue Außenmi-

nister Pavel Miljukov den Weltkrieg jedoch fortführen,

um gegenüber Frankreich und Großbritannien Bünd-

nistreue zu zeigen und so international weiter als Partner

auf Augenhöhe akzeptiert zu werden. Zudem gab sich

Miljukov der Illusion hin, die Mittelmächte doch noch

besiegen zu können, um mit dem Glanz eines strahlenden

Kriegstriumphs den dringend erforderlichen Rückhalt der

Bevölkerung zu erhalten.

In den Fragen von Krieg und Militär hatten sich die

Provisorische Regierung und der Arbeiter- und Soldatenrat

zunächst noch einmal zu Kompromissen durchgerungen.

In den Regimentern durften die Soldaten zwar Komitees

wählen, die ihre Interessen vertraten. Die Militärhierarchie

blieb aber ansonsten fortbestehen; die geforderte freie Wahl

der Offiziere wurde ausgesetzt. Diese Maßnahmen führten

dazu, dass in der Armee die Soldatenschinderei merklich

zurückging, und halfen, die Disziplin der Truppe wieder zu

verbessern. Ferner gelang es, die Soldaten davon zu über-

zeugen, nun würden sie nicht mehr den unterdrückerischen

Zarismus, sondern ihre Revolution vor den Deutschen ver-

teidigen.

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38 Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands

im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 146 f.; Nicolas Werth: Ein Staat

gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion,

in: Stéphane Courtois (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unter-

drückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich 1997, S. 51–298, hier

S. 56 ff.

39 Altrichter (wie Anm. 26), S. 137-139 u. 311-321; Stockdale (wie Anm. 10),

S. 213-246.

In einer gemeinsamen Erklärung gaben die Regie-

rung und der Arbeiter- und Soldatenrat bekannt, einen

Frieden ohne „Annexionen und Kontributionen“ anzu-

streben. Russland dürfe, wenn nicht als Sieger, so doch

auch nicht gedemütigt aus dem Krieg herausgehen. Als

der Außenminister Miljukov die Westmächte von diesem

Kompromiss am 18. April informierte, fügte er allerdings

eigenwillig eine Note bei, in der er statt der Friedensbe-

reitschaft vielmehr die Bündnistreue und die Kriegsbereit-

schaft Russlands hervorhob und damit den kompromiss-

bereiten Arbeiter- und Soldatenrat vor den Kopf stieß.

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Miljukovs Vorstoß stürzte die erste Provisorische Regie-

rung in die „Aprilkrise“ und zwang den Ministerpräsidenten

L’vov dazu, sein erst sechs Wochen zuvor zusammengetrete-

nes Kabinett wieder umzubilden. Er brauchte die verstärkte

Unterstützung der gemäßigten Linken, um die aufgeheizte

Situation zu normalisieren. In der zweiten Provisorischen

Regierung waren daher neben acht liberalen auch sechs

Minister aus den Reihen der Menschewiki und der Sozialre-

volutionären vertreten. Kerenskij, der einzige Linke im vor-

herigen Kabinett, stieg zum Kriegsminister auf und gewann

damit erheblich an Einfluss.

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Auch diese neue liberal-sozialistische Koalitionsregie-

rung kam jedoch vom Menetekel des Kriegs nicht los. Die

Linken in der Regierung hofften erfolglos auf eine inter-

nationale sozialistische Friedenskonferenz. Zudem drängte

der französische Bündnispartner, der unbedingt Entlastung

an der Westfront benötigte, Petrograd dazu, die militäri-

schen Aktivitäten an der Ostfront zu forcieren. In dieser

Situation ergriff der Kriegsminister Kerenskij die Flucht

nach vorn und startete am 18. Juni eine neue, letzte russi-

sche Offensive gegen die Mittelmächte. Trotz überlegener

Kräfte kam der Vorstoß nach einigen Tagen zum Erliegen.

Auf russischer Seite verloren 400.000 Armeeangehörige ihr

Leben. Nach dem erneut außerordentlich hohen Blutzoll

waren die russischen Soldaten das sinnlose Kriegsgemetzel

endgültig leid. Mit Massendesertionen und Disziplinlosig-

40 Stockdale (wie Anm. 23), S. 249-257; Altrichter (wie Anm. 26), S. 145-157.

41 Zu Kerenskij vgl. Figes/Kolonitskii (wie Anm. 32), S. 76-89; Richard Ab-

raham: Kerensky: First Love of the Revolution, New York 1987; Boris

Kolonitskii: Russian Leaders of the Great War and Revolutionary Era.

Representations and Rumors, in: Murray Frame u.a. (Hg.): Cultural His-

tory of Russia in the Great War and Revolution, 1914-22. Vol. 1: Popular

Culture, the Arts, and Institutions, Bloomington 2014, S. 27-54; Thomas

Gößmann: Machtmensch, Versager oder Opfer der Umstände? Alexander

Kerenskij und die provisorische Regierung, in: Riccardo Altieri/Frank Jacob

(Hg.): Die Geschichte der russischen Revolutionen. Erhoffte Veränderung,

erfahrene Enttäuschung, gewaltsame Anpassung, Bonn 2015, S. 190-212;

Siobhan Peeling: Kerenskii, Aleksandr Fedorovich, in: 1914-1918-online.

International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2014-10-08.

DOI: 10.15463/ie1418.10419 (https://encyclopedia.1914-1918-online.

net/article/kerenskii_aleksandr_fedorovich [Stand: 22.09.2017]).

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3