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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

keiten begann die Selbstauflösung der russischen Armee.

Die Regierung verlor die Kontrolle über die Streitkräfte.

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Die Massendesertionen hatten ihren Grund auch

darin, dass im Juni 1917 die Bauern begannen, sich nun

das Adelsland anzueignen. Niemand wollte bei dieser

sogenannten „schwarzen Landumverteilung“ außen vor

bleiben. Immer mehr kriegsmüde Soldaten bäuerlicher

Herkunft verließen darum ihre Regimenter, um in ihre

Heimat zurückzukehren.

Unmittelbar nach der Februarrevolution war es auf

dem russischen Land zunächst mit wenigen Ausnahmen

ruhig geblieben. Weil Millionen von bäuerlichen Soldaten

noch an der Front standen, wollten die Bauern zunächst

nichts überstürzen. Der revolutionäre Flächenbrand hatte

darum vor allem die Städte erfasst. Allerdings verknüpf-

ten die Bauern mit der Revolution die Erwartung einer

umfassenden Landreform. Die Provisorische Regierung

ging diese zentrale soziale Frage jedoch nicht an; sie wollte

der noch zu wählenden Verfassunggebenden Versamm-

lung die Lösung überlassen. Ferner vertraten viele Liberale

die Meinung, der Staat dürfe sich in die Eigentumsver-

hältnisse nicht einmischen. So dominierten auf dem Land

Adlige weiterhin die lokale Verwaltung. Aus bäuerlicher

Sicht hatte sich damit an den sozialen Ungerechtigkeiten

und Ungleichheiten nichts Grundlegendes verändert. Das

Februarregime verkannte die Explosivität der Landfrage

als zentrales gesellschaftliches Problem.

Die fortgesetzte Vertagung der erwarteten Agrarreform

ließ die Bauern im Sommer 1917 schließlich die Geduld

verlieren. Sie ergriffen selbst die Initiative und stellten mit

ihren eigenwilligen Landaneignungen die Provisorische

Regierung vor vollendete Tatsachen, die diese allerdings

nicht anerkennen wollte. Im August 1917 trat deshalb

sogar der sozialrevolutionäre Agrarminister Viktor Černov

(1873-1952) aus Protest zurück, weil er erkannte, dass

seine liberalen Amtskollegen keinerlei Bereitschaft zeigten,

eine nennenswerte Agrarreform zuzulassen. Die Dorfbe-

wohner fühlten sich dadurch in ihrem tief verwurzelten

Misstrauen gegen den Staat bestätigt und verweigerten der

Provisorischen Regierung den Gehorsam.

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Die Arbeiter sahen anfänglich wie Gewinner der Feb-

ruarrevolution aus. Die Gewerkschaften, die damals einen

42 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 162-170; McMeekin (wie Anm. 26), S. 147-

165; Louise E. Heenan: Russian Democracy’s Fatal Blunder. The Summer

Offensive of 1917, New York 1987.

43 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 172-188; Altrichter (wie Anm. 26), S. 176 f.

u. 337-358; Hildermeier (wie Anm. 37), S. 25 ff.; Werth (wie Anm. 38), S.

58 ff; Baberowski/Kindler/Teichmann (wie Anm. 36), S. 21ff.

starken Zulauf erlebten, setzten die Einführung des seit lan-

gem geforderten Achtstundentags durch. Zwar veränderten

sich die Eigentumsverhältnisse in der Industrie nicht. Eine

Verstaatlichung der Betriebe blieb aus. Allerdings bildeten

sich in den Fabriken Arbeiterkomitees, die Mitsprache bei

der Unternehmensführung erhielten. Sie setzten im März

und Mai 1917 große Lohnerhöhungen durch.

Doch dann begann sich das Blatt für die Arbeiter zu

wenden. Probleme im Eisenbahnverkehr, Brennstoffmangel

und andere Hemmfaktoren ließen die industrielle Produk-

tion durchschnittlich um ein weiteres Drittel einbrechen.

Die Unternehmen mussten zahlreiche Beschäftigte entlas-

sen. Mit der Arbeitslosigkeit nahm die Geldentwertung

weiter zu und machte damit alle Lohnzuwächse zunichte.

Die unaufhörlich fortschreitende Inflation nahm den Bau-

ern jeglichen Anreiz, mehr Agrargüter auf den Markt zu

bringen. Durch diesen gestörten Wirtschaftskreislauf blie-

ben in den Städten die Versorgungsengpässe bestehen. Auf

ihre fortgesetzte Notlage machten die Arbeiter seit dem

Mai 1917 wieder mit zahlreichen Streiks aufmerksam.

Weil selbst Lebensmittelrationierungen keinerlei Besserung

bewirkten, brauchte sich während der Sommermonate der

Vertrauensvorschuss der bürgerlichen Regierung gerade

auch in den urbanen Zentren zunehmend auf.

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44 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 138-150; Altrichter (wie Anm. 26), S. 279-

300; Steve A. Smith: Red Petrograd. Revolution in the Factories, 1917-

1918, Cambridge 1983, S. 139-252; David Mandel: The Petrograd Workers

and the Soviet Seizure of Power. From the July Days 1917 to July 1918,

London 1984, S. 264-286; Sarah Badcok: Politics and the People in Revo-

lutionary Russia. A Provincial History, Cambridge 2007, S. 211-236.

Soldaten demonstrieren gegen die Provisorische Regierung. Auf dem Plakat

steht die Parole „Nieder mit den zehn Kapitalisten-Ministern – alle Macht

dem Arbeiter- und Soldatenrat", Petrograd, Juli 1917.

Foto: ullsteinbild/Archiv Gerstenberg

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3