14
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
keiten begann die Selbstauflösung der russischen Armee.
Die Regierung verlor die Kontrolle über die Streitkräfte.
42
Die Massendesertionen hatten ihren Grund auch
darin, dass im Juni 1917 die Bauern begannen, sich nun
das Adelsland anzueignen. Niemand wollte bei dieser
sogenannten „schwarzen Landumverteilung“ außen vor
bleiben. Immer mehr kriegsmüde Soldaten bäuerlicher
Herkunft verließen darum ihre Regimenter, um in ihre
Heimat zurückzukehren.
Unmittelbar nach der Februarrevolution war es auf
dem russischen Land zunächst mit wenigen Ausnahmen
ruhig geblieben. Weil Millionen von bäuerlichen Soldaten
noch an der Front standen, wollten die Bauern zunächst
nichts überstürzen. Der revolutionäre Flächenbrand hatte
darum vor allem die Städte erfasst. Allerdings verknüpf-
ten die Bauern mit der Revolution die Erwartung einer
umfassenden Landreform. Die Provisorische Regierung
ging diese zentrale soziale Frage jedoch nicht an; sie wollte
der noch zu wählenden Verfassunggebenden Versamm-
lung die Lösung überlassen. Ferner vertraten viele Liberale
die Meinung, der Staat dürfe sich in die Eigentumsver-
hältnisse nicht einmischen. So dominierten auf dem Land
Adlige weiterhin die lokale Verwaltung. Aus bäuerlicher
Sicht hatte sich damit an den sozialen Ungerechtigkeiten
und Ungleichheiten nichts Grundlegendes verändert. Das
Februarregime verkannte die Explosivität der Landfrage
als zentrales gesellschaftliches Problem.
Die fortgesetzte Vertagung der erwarteten Agrarreform
ließ die Bauern im Sommer 1917 schließlich die Geduld
verlieren. Sie ergriffen selbst die Initiative und stellten mit
ihren eigenwilligen Landaneignungen die Provisorische
Regierung vor vollendete Tatsachen, die diese allerdings
nicht anerkennen wollte. Im August 1917 trat deshalb
sogar der sozialrevolutionäre Agrarminister Viktor Černov
(1873-1952) aus Protest zurück, weil er erkannte, dass
seine liberalen Amtskollegen keinerlei Bereitschaft zeigten,
eine nennenswerte Agrarreform zuzulassen. Die Dorfbe-
wohner fühlten sich dadurch in ihrem tief verwurzelten
Misstrauen gegen den Staat bestätigt und verweigerten der
Provisorischen Regierung den Gehorsam.
43
Die Arbeiter sahen anfänglich wie Gewinner der Feb-
ruarrevolution aus. Die Gewerkschaften, die damals einen
42 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 162-170; McMeekin (wie Anm. 26), S. 147-
165; Louise E. Heenan: Russian Democracy’s Fatal Blunder. The Summer
Offensive of 1917, New York 1987.
43 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 172-188; Altrichter (wie Anm. 26), S. 176 f.
u. 337-358; Hildermeier (wie Anm. 37), S. 25 ff.; Werth (wie Anm. 38), S.
58 ff; Baberowski/Kindler/Teichmann (wie Anm. 36), S. 21ff.
starken Zulauf erlebten, setzten die Einführung des seit lan-
gem geforderten Achtstundentags durch. Zwar veränderten
sich die Eigentumsverhältnisse in der Industrie nicht. Eine
Verstaatlichung der Betriebe blieb aus. Allerdings bildeten
sich in den Fabriken Arbeiterkomitees, die Mitsprache bei
der Unternehmensführung erhielten. Sie setzten im März
und Mai 1917 große Lohnerhöhungen durch.
Doch dann begann sich das Blatt für die Arbeiter zu
wenden. Probleme im Eisenbahnverkehr, Brennstoffmangel
und andere Hemmfaktoren ließen die industrielle Produk-
tion durchschnittlich um ein weiteres Drittel einbrechen.
Die Unternehmen mussten zahlreiche Beschäftigte entlas-
sen. Mit der Arbeitslosigkeit nahm die Geldentwertung
weiter zu und machte damit alle Lohnzuwächse zunichte.
Die unaufhörlich fortschreitende Inflation nahm den Bau-
ern jeglichen Anreiz, mehr Agrargüter auf den Markt zu
bringen. Durch diesen gestörten Wirtschaftskreislauf blie-
ben in den Städten die Versorgungsengpässe bestehen. Auf
ihre fortgesetzte Notlage machten die Arbeiter seit dem
Mai 1917 wieder mit zahlreichen Streiks aufmerksam.
Weil selbst Lebensmittelrationierungen keinerlei Besserung
bewirkten, brauchte sich während der Sommermonate der
Vertrauensvorschuss der bürgerlichen Regierung gerade
auch in den urbanen Zentren zunehmend auf.
44
44 Bonwetsch (wie Anm. 22), S. 138-150; Altrichter (wie Anm. 26), S. 279-
300; Steve A. Smith: Red Petrograd. Revolution in the Factories, 1917-
1918, Cambridge 1983, S. 139-252; David Mandel: The Petrograd Workers
and the Soviet Seizure of Power. From the July Days 1917 to July 1918,
London 1984, S. 264-286; Sarah Badcok: Politics and the People in Revo-
lutionary Russia. A Provincial History, Cambridge 2007, S. 211-236.
Soldaten demonstrieren gegen die Provisorische Regierung. Auf dem Plakat
steht die Parole „Nieder mit den zehn Kapitalisten-Ministern – alle Macht
dem Arbeiter- und Soldatenrat", Petrograd, Juli 1917.
Foto: ullsteinbild/Archiv Gerstenberg
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3