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Einsichten und Perspektiven 4 | 17
nach Petrograd zurück, um den Ton in den öffentlichen
Auseinandersetzungen weiter zu verschärfen.
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Kerenskijs Februarregime hatte politisch endgül-
tig abgewirtschaftet. Es war vor allem an der Aufgabe
gescheitert, die materiellen Lebensbedingungen der Men-
schen zu verbessern und Frieden zu schaffen. Angesichts
der Paralyse des russischen Staats erschienen Parlamen-
tarismus, Demokratie und Marktwirtschaft nicht mehr
als der Königsweg aus der Krise des Jahres 1917, sondern
nur noch als Sackgasse. Ein politischer Herbststurm zog
auf. Anfang Oktober erschien es nur noch als eine Frage
der Zeit, bis es zu einem erneuten Staatsstreich kommen
würde. Angesichts des politischen Bankrotts der Provi-
sorischen Regierung und der mit ihnen verbundenen
Parteien lag die Macht in Russland buchstäblich auf der
Straße.
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Der Rote Oktober
Im Oktober erwiesen sich die Bolschewiki in Russ-
land als einzige politische Kraft, die dank eines wachsen-
den gesellschaftlichen Zuspruchs noch handlungsfähig
war und durch den Rückhalt in der Rätebewegung über
Macht- und Gewaltmittel verfügte. Unter der Federfüh-
rung Trotzkijs wurde am 16. Oktober 1917 das Mili-
tärrevolutionäre Komitee des Petrograder Arbeiter- und
Soldatenrats gegründet, das Befehle der Provisorischen
Regierung außer Kraft setzte und in aller Offenheit Vor-
bereitungen für einen erneuten Aufstand traf. Mit ihren
Handlungen und öffentlichen Äußerungen hatten die
Bolschewiki längst deutlich gemacht, dass es für sie nur
noch eine Frage der Zeit und der Gelegenheit sei, bis sie
einen erneuten Umsturzversuch wagten.
In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober war es
dann so weit. Die Roten Garden besetzten strategisch
wichtige Punkte in Petrograd. Viele der 20.000, die sich
damals den Bolschewiki anschlossen, um die Straßen
sowie Plätze der Hauptstadt zu kontrollieren, wussten
gar nicht, worum es ging, und meinten oftmals, erneut
gegen eine angebliche Konterrevolution vorzugehen.
Nach einer mehrstündigen Belagerung, aber ohne größere
Scharmützel wurde der Winterpalast eingenommen, in
den die Provisorische Regierung im Sommer umgezogen
war. Lenin proklamierte die Sozialistische Sowjetrepublik,
die fortan vom Rat der Volkskommissare – dem neuen
56 Service (wie Anm. 45), S. 394-401; Altrichter (wie Anm. 26), S. 219 ff.;
Aust (wie Anm. 8), S. 138-142.
57 Rabinowitch (wie Anm. 52), S. 151-209; Read (wie Anm. 25), S. 95-116;
Neutatz (wie Anm. 38), S. 150 f.
Regierungsorgan – geleitet wurde. Lenin selber wurde zu
seinem Vorsitzenden, also zum Regierungschef ernannt
und Trotzkij zumVolkskommissar für die Auswärtige Poli-
tik.
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Zuständig für Nationalitätenfragen war der aufstre-
bende, aus Georgien stammende Iosif Džugašvili, der sich
den Kampfnamen Stalin („der Stählerne“) gegeben hatte
und mit seiner Ernennung zum Volkskommissar nun
immer mehr ins Rampenlicht der großen Politik rückte.
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Die Machtergreifung der Bolschewiki verlief nicht
zuletzt erfolgreich, weil sich der linke Flügel der sozial-
revolutionären Partei gegen den bisherigen politischen
Kurs der rechten Parteiführung gestellt hatte, um an der
Seite Lenins bald Posten zu übernehmen und so die neue
Staatsführung als linkssozialistische Koalitionsregierung
erscheinen zu lassen. Die linken Sozialrevolutionäre erhiel-
ten Anfang Dezember 1917 sogar fünf Regierungsressorts
übertragen, darunter so bedeutende wie die der Justiz, des
Inneren und der Landwirtschaft. Durch die Koalition mit
den linken Sozialrevolutionären, die damals bei den Bau-
ern den meisten Zuspruch erhielten, gewährleistete Lenin,
dass es keinen großen organisierten Widerstand auf dem
Land gab.
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Der Zeitpunkt zum Staatsstreich war mit dem 24. und
25. Oktober geschickt gewählt, weil einen Tag nach der
Einnahme des Winterpalasts der 2. Allrussische Räte-
kongress in Petrograd tagte. Die Menschewiki und die
rechten Sozialrevolutionäre, die im Rätekongress die
Mehrheit besaßen, zeigten sich entrüstet über die Mach-
tusurpation der Bolschewiki. Sie bezichtigten Lenin des
verräterischen Komplotts und boykottierten aus Protest
die entscheidende Abstimmung über die Rechtmäßigkeit
des Oktoberputsches. Das erwies sich als taktischer Fehler,
weil die sich in der Minderheit befindenden Bolschewiki
und ihre Bündnispartner den 2. Allrussischen Rätekon-
gress so als politische Bühne nutzen konnten, um ihren
Umsturz absegnen und den Rat der Volkskommissare als
Regierung legitimieren zu lassen. Höhnisch rief Trotzkij
den Menschewiki und den rechten Sozialrevolutionären
58 Zu den Umsturzereignissen vgl. Figes (wie Anm. 23), S. 501-529; Mandel
(wie Anm. 44), S. 310-342; Koenen (wie Anm. 48), S. 752-758; Manfred
Hildermeier: Roter Oktober. Der Staatsstreich der Bolschewiki, in: Helmut
Altrichter u.a.: 1917 – Revolutionäres Russland, Darmstadt 2016, S. 69-74.
59 Stephen Kotkin: Stalin. Bd 1: Paradoxes of power; 1878-1928, New York
2014, S. 228f.; Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie, München 2015,
S. 98 f.
60 Lutz Häfner: Die Partei der linken Sozialrevolutionäre in der russischen
Revolution von 1917/18, Köln 1994; Hendrik Wallat: Oktoberrevolution
oder Bolschewismus. Studien zu Leben und Werk von Isaak N. Steinberg,
Münster 2013.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3