Table of Contents Table of Contents
Previous Page  22 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 22 / 80 Next Page
Page Background

22

Einsichten und Perspektiven 4 | 17

und passive Wahlrecht. Dies war allerdings keine Errungen-

schaft der Bolschewiki, sondern schon vom Februarregime

im März 1917 festgelegt worden. Insgesamt gaben 42 Mio.

Wahlberechtigte in freier, gleicher und geheimer Wahl ihre

Stimme ab. Die Bolschewiki erhielten knapp 24 Prozent

der Stimmen; bei den Arbeitern und den Soldaten wurden

sie jedoch zur stärksten Partei. Wahlsieger waren die Sozi-

alrevolutionäre mit über 50 Prozent, wobei sich der linke,

mit den Bolschewiki paktierende Flügel deutlich im Auf-

wind befand. Die Menschewiki gehörten genauso wie die

liberalen und rechten Parteien zu den Wahlverlierern. Auf

die nationalen Parteien der nichtrussischen Völker, die ein

Spektrum von links bis liberal abdeckten, entfielen je nach

Zählung zwischen 15 und 20 Prozent. Ihre Vertreter traten

als Fürsprecher nationaler Anliegen auf.

Mit dem Ergebnis der Wahl zur Verfassunggebenden

Versammlung war Lenin unzufrieden. Er befürchtete,

diese Volksvertretung könne sich seinen politischen Wün-

schen widersetzen. Als die Verfassunggebende Versamm-

lung nach langem Zögern schließlich am 5. Januar 1918

erstmals zusammentrat, ließ Lenin sie darum unverzüglich

mit Waffengewalt auflösen und beendete damit das parla-

mentarische Zwischenspiel der russischen Geschichte. Dar-

aufhin beriefen die Bolschewiki als Gründungsparlament

des neuen Sowjetstaats erneut den mittlerweile längst von

ihnen dominierten Allrussischen Rätekongress der Arbei-

ter- und Soldatendeputierten ein. Dessen Deputierte ver-

abschiedeten bereitwillig die neue Staatsform der Sowjet-

republik. Schon diese ersten politischen Manöver während

der Geburtsphase des Sowjetstaats zeigten, dass die neuen

Machthaber ein sehr spezifisches Verständnis von Demo-

kratie hatten, bei dem weniger der erklärte Wille der Bevöl-

kerung als vielmehr die Machtinteressen der Parteiführer

das politische Handeln bestimmten.

70

Das unterstrich auch der Umgang mit den politi-

schen Konkurrenten. Schon Ende November hatte der

Rat der Volkskommissare die liberalen Parteien verbieten

und deren politischen Führer inhaftieren lassen.71 Am

7. Dezember 1917 wurde dann die „Außerordentliche

Kommission für den Kampf gegen Konterrevolutionäre

und Sabotage“ ins Leben gerufen, die sodann unter ihrer

Abkürzung Tscheka in die Sowjetgeschichte einging. Die-

ses Zentralorgan des von den Bolschewiki selbst ausgeru-

fenen „roten Terrors“ stand unter der Leitung von Feliks

Dzeržinskij

(1877-1926).

Um sich herum scharte der

berüchtigte „eiserne Feliks“

eine gewissenlose Gruppe

von Folterknechten und

Geheimpolizisten. Sie unter-

nahmen alles, um politische

Gegner auszuschalten und

das Machtmonopol der Bol-

schewiki landesweit durch-

zusetzen. Dafür erhielt die

Tscheka bald immer weit-

gehendere Befugnisse, auch

das Recht, Menschen ohne

Gerichtsverfahren

hinzu-

richten oder Geiseln zu neh-

men, um von Bauern Abga-

ben und Dienstleistungen zu

70 ZurVerfassunggebendenVersamm-

lung vgl. Altrichter (wie Anm. 26),

S. 234-256; Pipes (wie Anm. 45),

Bd. 2, S. 339-369; Bonwetsch

(wie Anm. 22), S. 198-213; Rabi-

nowitch (wie Anm. 52), S. 80-127;

Mandel (wie Anm. 44), S. 343-357.

71 Stockdale (wie Anm. 23), S. 263;

Figes (wie Anm. 23), S. 538 ff.

Lenin beim 2. Allrussischen Gesamtkongress 1917,

Gemälde von Alexandr Nikolajevič Samochvalov aus dem Jahr 1940

Bild: picture-alliance / akg-images

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3