25
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
Ihre Machtergreifung verstanden die Bolschewiki als
Beginn einer neuen Zeitrechnung. Das zeigte sich schon
darin, dass sie am 1. Februar 1918 den bis dahin geltenden
Julianischen Kalender auf den imWesten geltenden Grego-
rianischen Kalender umstellten. Per Dekret holte Sowjet-
russland den jahrhundertlangen kalendarischen Rückstand
von 13 Tagen auf. Mit diesem symbolischen Akt wollten
die neuen Machthaber aller Welt demonstrieren, dass der
erste sozialistische Staat fortan nicht mehr hinter der Ent-
wicklung der Zeit hinterher hinken, sondern ihr vielmehr
vorangehen werde.
78
Allerdings gab die bolschewistische Regierungsbilanz
im Frühling des Jahres 1918 skeptischen Zeitgenossen
guten Grund, nicht den Anbruch einer neuen Mensch-
heitsepoche zu bejubeln. Inständig warnte so der Schrift-
steller Maxim Gorkij Anfang März 1918 vor dem destruk-
tiven Bedrohungspotential der Umbruchsituation. In der
russischen Revolution sah er nicht den „natürlichen und
machtvollen Ausbruch aller schöpferischen Kräfte eines
Volkes“, sondern lediglich „einen Ausbruch von Erbitte-
rung und Hass“. Das Leben in Sowjetrussland habe sich
deshalb keineswegs zum Besseren verändert. Wie zuvor
unter dem Joch der zarischen Autokratie lebten die Men-
schen weiter „mit denselben Bräuchen, Gewohnheiten
und Vorurteilen, genau so dumm und schmutzig. […]
Das russische Volk, das die volle Freiheit erlangt hat, ver-
mag nicht, ihren großen Segen für sich zu nutzen, son-
dern sie nur zum Schaden für sich und seinen Nächsten
zu missbrauchen, und so riskiert es, endgültig zu verlieren,
was es sich nach leidvollen Jahrhunderten erkämpft hat.
Nach und nach wird all das Großartige vernichtet, was
seine Vorfahren erarbeitet haben, verschwinden die nati-
onalen Reichtümer und die Möglichkeiten, die Schätze
dieser Erde zu mehren, werden Industrie, Verkehr und
Post zerstört und die Städte verwüstet, die in Schmutz
versinken.“
79
Gorkijs düstere Prognose sollte sich bewahrheiten, als
im Frühsommer 1918 der Russische Bürgerkrieg ausbrach
und in den folgenden drei Jahren einen noch höheren
Blutzoll als zuvor der Weltkrieg forderte. Russlands „Kon-
tinuum der Krise“
80
hatte 1918 längst noch nicht sein
Ende gefunden, sondern erfuhr damals vielmehr eine wei-
78 Malte Rolf: Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006, S. 135-144.
79 Zit. n. Figes (wie Anm. 23), S. 426.
80 So der programmatische Buchtitel von Holquist (wie Anm. 21). Von einem
„Kontinuum der Gewalt“ spricht Liudmila Novikova: Kontinuum der Ge-
walt. Der Norden Russlands 1914-1920, in: Osteuropa 64/2014, H. 2-4.
S. 157-170.
tere Eskalation. Unter den Vorzeichen der Verteidigung
der bolschewistischen Revolution, die mit ihrem voll-
mundigen Ideenpotenzial den Horizont der Zeit sprengte
und einem utopischen Überschuss den Weg in die Politik
ebnete, trat das Land in eine neue Phase seiner stürmi-
schen Geschichte.
Im Lenin-Museum in Moskau, das 1994 geschlossen wurde, war Lenins
Mantel mit den Spuren des Attentats ausgestellt.
Fotos: ullstein bild-Heritage Images/Fine Art Images//ullstein bild/
Fotografin: Elizaveta Becker
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3