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Einsichten und Perspektiven 4 | 17
der Straßenbahn unbehelligt von seiner Wohnung zum
Smolnyj-Institut, wo die Bolschewiki ihr Hauptquartier
hatten, um von hier aus den Umsturz zu dirigieren.
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Weil in den Wirren des Jahres 1917 allen Machtusurpa-
toren nur eine kurze politische Halbwertzeit bescheinigt
wurde, maßen viele Zeitgenossen den Geschehnissen in
Petrograd zunächst kaum größere Bedeutung zu. Lenins
europäischen Genossen erschien der Oktoberumsturz als
blankes Abenteurertum. Auch wenn Lenin und Trotzkij
im Verlauf des Jahres 1917 die Kunst des Aufstands offen-
sichtlich gut gelernt hatten, hegten viele Zweifel, ob sich
die Bolschewiki als die neuen Herrscher in Russland wirk-
lich durchsetzen und dort den ersten sozialistischen Staat
erschaffen könnten.
Den Oktobertagen fehlte eigentlich das Dramatische
und Heroische. Der Revolutionsmythos konnte sich
damit nicht von selbst ergeben; er musste erst mit gro-
ßem Pathos und viel Aufwand zum Leben erweckt wer-
den. Von zentraler Bedeutung dafür waren zum einen die
als
reenactment
organisierten Manöverinszenierungen,
Freilichtschauspiele und andere große Feierlichkeiten. Sie
wurden schon bald regelmäßig zu Ehren des Roten Okto-
bers organisiert, um mit im wahrsten Sinne des Wortes
bewegenden politischen Events eine hoch emotionalisierte
Aufbruchsstimmung und eine lebendige Erinnerungskul-
tur zu schaffen.
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Zum anderen entstand anlässlich des zehnten Jahres-
tags der Revolution der Stummfilm „Oktober“. Im offizi-
ellen Auftrag der Parteiführung hatte Sergej Eisenstein die
Regie übernommen, der schon zwei Jahre zuvor mit dem
Film „Panzerkreuzer Potemkin“ die erste Russische Revo-
lution auf der Kinoleinwand großartig in Szene gesetzt
hatte. Eisensteins zweiter Revolutionsstreifen „Oktober“
blieb künstlerisch hinter dem ersten zurück; aber die Film-
crew nutzte jeden Kniff, um mit großartigen Einstellun-
gen den Geschützdonner des Schlachtschiffs Aurora, der
den Beginn des Aufstands weithin hörbar gemacht hatte,
und den von tausenden Laiendarstellern nachgespielten
Sturm auf den Winterpalast zu einer ikonographischen
Bilderwelt werden zu lassen. Bei Eisensteins filmischer
Nachstellung ging im Winterpalast mehr zu Bruch als
bei der tatsächlichen Einnahme des Regierungssitzes zehn
Jahre zuvor. Das verdeutlicht sowohl das Undramatische
64 Service (wie Anm. 45), S. 403; Figes (wie Anm. 23), S. 512 f.
65 Vladimir Tolstoy/Irina Bibikova/Catherine Cooke (Hg.): Street Art of the
Revolution. Festival and Celebrations in Russia, 1918-33, London 1990;
Marina Dalügge: Die Manöverinszenierungen der Oktober-Revolution in
Petrograd. Theatralität zwischen Fest und Ritual, Tübingen 2016.
der tatsächlichen Revolutionsereignisse als auch die Rolle,
die der Film schon während der 1920er Jahre als zentrale
Mythenmaschine und historische Realitätskulisse spielte.
Es war Eisenstein, der die Oktoberrevolution als mitrei-
ßenden geschichtlichen Augenblick auf der Kinoleinwand
zur Anschauung brachte und damit bis heute weltweit die
Repräsentation vom Roten Oktober prägt.
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Erste Dekrete und Manöver zur Machtsicherung
Die beiden Revolutionen des Jahres 1917 waren in
Russland Folgen akuter Regierbarkeitsprobleme, die sich
sowohl aus der gesellschaftlichen Konfliktdynamik als auch
aus der mannigfaltigen, kriegsbedingten Destabilisierung
der sozialen Ordnung ergaben. Während die Provisorische
Regierung stets gezögert hatte, die drängenden Probleme
der Zeit anzugehen, machten die Bolschewiki Schluss mit
dieser politischen Vertagungspraxis. Das eigentlich Revo-
lutionäre ereignete sich darum erst nach dem Umsturz,
als die Bolschewiki zur Behauptung der gerade errunge-
nen Macht eine revolutionäre Kettenreaktion auslösten,
um die erstmalige Staatswerdung des Sozialismus auf den
Weg zu bringen. Mit ihrem unbändigen Aktionismus
und ungezügelten „Pathos des Neubeginns“
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bahnte sich
allerdings kein Masterplan den Weg in die russische Wirk-
lichkeit, auch wenn die sowjetische Geschichtsschreibung
Lenin jahrzehntelang als Herren über den historischen
Prozess und umsichtigen Staatslenker darstellte. Vielmehr
mussten die Bolschewiki immer wieder improvisieren.
Deshalb sticht nicht so sehr ihre klare Strategie, sondern
vor allem ihre Taktik ins Auge, mit der sie es vermochten,
sich immer wieder auch aus schier aussichtslosen Lagen
heraus zu manövrieren.
Als Regierungschef verkündete Lenin die „Diktatur des
Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft“
und erließ innerhalb einer Woche nach der Machtergrei-
fung als erstes vier wichtige Dekrete, um mit suggestiven
Parolen sowohl eindeutige Antworten auf die anstehenden
Kernprobleme als auch jedem das Seine zu versprechen. Das
Dekret über den Frieden sah die sofortige Aufnahme von
Friedensverhandlungen mit den kriegführenden Nationen
vor. Mit dem Dekret über Grund und Boden gingen das
66 James Goodwin: Eisenstein. Cinema, and History, Urbana/Chicago 1993,
S. 79-97; Oksana Bulgakowa: Sergej Eisenstein. Eine Biographie, Berlin
1997, S. 95-105; Ronald Bergan: Sergei Eisenstein. A Life in Conflict, Lon-
don 1997, S. 126-138; Mike O‘Mahon: Sergei Eisenstein, London 2008, S.
89-102.
67 So definierte Hannah Arendt ein entscheidendes Kriterium der Revolution.
Zit. n. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte
des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 738.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3