Table of Contents Table of Contents
Previous Page  21 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 21 / 80 Next Page
Page Background

21

Einsichten und Perspektiven 4 | 17

Land und das Wirtschaftsinventar des Adels sowie großer

Landbesitzer in die Verwaltung der Dorfgemeinden über.

Damit erfüllten die Bolschewiki den langgehegten Traum

der Bauern nach einer umfassenden Agrarreform und lega-

lisierten die seit dem Sommer durchgeführten „schwarzen

Landumverteilungen“. Zugleich bedeutete dies das Ende

des russischen Landadels, der über Jahrhunderte die Sozial-

und Machtverhältnisse auf dem Land bestimmte hatte.

Das Dekret über die Arbeiterkontrolle garantierte den

Arbeitern weitgehende Mitsprache in allen betriebswirt-

schaftlichen Bereichen. Die von Stalin ausgearbeitete

Deklaration der Rechte der Völker versprach die Befrei-

ung aus dem russischen Vielvölkerkerker und den Nicht-

russen damit die nationale Selbstbestimmung. Darüber

hinaus wurde allen Frauen die sofortige Befreiung vom

Patriarchat in Aussicht gestellt.

68

Mit ihren vollmundigen Versprechungen von der Erlö-

sung von allen Übeln der Welt entwarfen die Machtha-

ber das Bild einer klassenlosen Gesellschaft mit sozialer

Gleichheit und Gerechtigkeit, in der es keine Ausbeutung

68 Zu diesen ersten Dekreten vgl. Pipes (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 275-280;

Smith (wie Anm. 13), S. 61-65; Service (wie Anm. 45), S. 418-422.

und Konflikte mehr geben würde. Inmitten des revolu-

tionären Chaos sprach eine solche grandiose Zukunftsvi-

sion viele an. Mit dem erfolgreichen Coup in Petrograd

sprang der revolutionäre Funke darum auf andere Lan-

desregionen über. Dank der seit dem Sommer 1917 vor-

anschreitenden Bolschewisierung der Räte und Komitees

sowie der straffen Organisation ihrer Parteikader gelang es

Lenin, Trotzkij und ihren Gefolgsleuten, sich vor allem in

Gebieten mit einer großen Arbeiterschaft Unterstützung

zu sichern und sich hier eine Machtbasis aufzubauen.

Moskau wurde dabei zum Ort erbitterter, tagelang

andauernder Straßenkämpfe. In weniger stark industriali-

sierten Gebieten stützten die Bolschewiki ihre Herrschaft

auf die örtlichen Garnisonen. In Sibirien verbreitete sich

die Revolution längs der Transsibirischen Eisenbahn. In

Kleinstädten und auf dem Land waren die Reaktionen der

Bevölkerung oftmals zögerlich und mitunter feindselig;

aber auch hier bildeten sich bald Räte als neue Macht-

struktur. Deren Vorsitzende ignorierten zwar oftmals die

Dekrete der neuen politischen Zentralgewalt und trafen

eigene Entscheidungen. Sie stellten sich allerdings zunächst

nicht gegen die neuen Machthaber. Auch die Perspektive

von den russischen Regionen her zeigte, dass die Bolsche-

wiki ihren Sieg nicht so sehr der eigenen Stärke, sondern vor

allemder akuten Schwäche ihrer politischen Konkurrenten

zu verdanken hatten. Erst das Versagen der Provisorischen

Regierung hatte die politischen Voraussetzungen für den

erfolgreichen Staatsstreich der Bolschewiki geschaffen.

69

Auch wenn der gut organisierten, von charismatischen

Führern geleiteten Kampfpartei der Bolschewiki im Herbst

und Winter 1917 kein großer Widerstand entgegenschlug,

so konnten sich die neuen Machthaber der breiten Unter-

stützung der Bevölkerung dennoch keineswegs sicher sein.

Am 11. November 1917 fanden die noch vor dem Okto-

berumsturz von der Provisorischen Regierung anberaumten

Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung statt, auf

die Liberale und gemäßigte Linke zuvor ihre ganzen politi-

schen Hoffnungen gesetzt hatten, um dem revolutionären

Russland eine neue Grundordnung zu geben. Bei dieser

Wahl erhielten erstmals die russischen Frauen das aktive

69 Zur Ausbreitung der Revolution vgl. die anschaulichen regionalhistori-

schen Studien von Diane Koenker: Moscow Workers and the 1917 Revo-

lution, Princeton 1981; Donald J. Raleigh: Revolution on the Volga. 1917

in Saratov, Ithaca 1986; Orlando Figes: Peasant Russia, Civil War. The

Volga Countryside in Revolution (1917-1921), Oxford 1989; Tanja Pen-

ter: Odessa 1917. Revolution an der Peripherie, Köln 2000; Stefan Karsch:

Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronež, 1917-

1919, Stuttgart 2006; Liudmila Novikova: The Russian Revolution from a

Provincial Perspective, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian

History 16/2015, H. 4., S. 769-785.

Lenin als idealisierter Führer der Revolution,

Gemälde von Alexander Gerassimov

Foto: picture alliance/ullstein bild

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3