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Einsichten und Perspektiven 4 | 17
Land und das Wirtschaftsinventar des Adels sowie großer
Landbesitzer in die Verwaltung der Dorfgemeinden über.
Damit erfüllten die Bolschewiki den langgehegten Traum
der Bauern nach einer umfassenden Agrarreform und lega-
lisierten die seit dem Sommer durchgeführten „schwarzen
Landumverteilungen“. Zugleich bedeutete dies das Ende
des russischen Landadels, der über Jahrhunderte die Sozial-
und Machtverhältnisse auf dem Land bestimmte hatte.
Das Dekret über die Arbeiterkontrolle garantierte den
Arbeitern weitgehende Mitsprache in allen betriebswirt-
schaftlichen Bereichen. Die von Stalin ausgearbeitete
Deklaration der Rechte der Völker versprach die Befrei-
ung aus dem russischen Vielvölkerkerker und den Nicht-
russen damit die nationale Selbstbestimmung. Darüber
hinaus wurde allen Frauen die sofortige Befreiung vom
Patriarchat in Aussicht gestellt.
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Mit ihren vollmundigen Versprechungen von der Erlö-
sung von allen Übeln der Welt entwarfen die Machtha-
ber das Bild einer klassenlosen Gesellschaft mit sozialer
Gleichheit und Gerechtigkeit, in der es keine Ausbeutung
68 Zu diesen ersten Dekreten vgl. Pipes (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 275-280;
Smith (wie Anm. 13), S. 61-65; Service (wie Anm. 45), S. 418-422.
und Konflikte mehr geben würde. Inmitten des revolu-
tionären Chaos sprach eine solche grandiose Zukunftsvi-
sion viele an. Mit dem erfolgreichen Coup in Petrograd
sprang der revolutionäre Funke darum auf andere Lan-
desregionen über. Dank der seit dem Sommer 1917 vor-
anschreitenden Bolschewisierung der Räte und Komitees
sowie der straffen Organisation ihrer Parteikader gelang es
Lenin, Trotzkij und ihren Gefolgsleuten, sich vor allem in
Gebieten mit einer großen Arbeiterschaft Unterstützung
zu sichern und sich hier eine Machtbasis aufzubauen.
Moskau wurde dabei zum Ort erbitterter, tagelang
andauernder Straßenkämpfe. In weniger stark industriali-
sierten Gebieten stützten die Bolschewiki ihre Herrschaft
auf die örtlichen Garnisonen. In Sibirien verbreitete sich
die Revolution längs der Transsibirischen Eisenbahn. In
Kleinstädten und auf dem Land waren die Reaktionen der
Bevölkerung oftmals zögerlich und mitunter feindselig;
aber auch hier bildeten sich bald Räte als neue Macht-
struktur. Deren Vorsitzende ignorierten zwar oftmals die
Dekrete der neuen politischen Zentralgewalt und trafen
eigene Entscheidungen. Sie stellten sich allerdings zunächst
nicht gegen die neuen Machthaber. Auch die Perspektive
von den russischen Regionen her zeigte, dass die Bolsche-
wiki ihren Sieg nicht so sehr der eigenen Stärke, sondern vor
allemder akuten Schwäche ihrer politischen Konkurrenten
zu verdanken hatten. Erst das Versagen der Provisorischen
Regierung hatte die politischen Voraussetzungen für den
erfolgreichen Staatsstreich der Bolschewiki geschaffen.
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Auch wenn der gut organisierten, von charismatischen
Führern geleiteten Kampfpartei der Bolschewiki im Herbst
und Winter 1917 kein großer Widerstand entgegenschlug,
so konnten sich die neuen Machthaber der breiten Unter-
stützung der Bevölkerung dennoch keineswegs sicher sein.
Am 11. November 1917 fanden die noch vor dem Okto-
berumsturz von der Provisorischen Regierung anberaumten
Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung statt, auf
die Liberale und gemäßigte Linke zuvor ihre ganzen politi-
schen Hoffnungen gesetzt hatten, um dem revolutionären
Russland eine neue Grundordnung zu geben. Bei dieser
Wahl erhielten erstmals die russischen Frauen das aktive
69 Zur Ausbreitung der Revolution vgl. die anschaulichen regionalhistori-
schen Studien von Diane Koenker: Moscow Workers and the 1917 Revo-
lution, Princeton 1981; Donald J. Raleigh: Revolution on the Volga. 1917
in Saratov, Ithaca 1986; Orlando Figes: Peasant Russia, Civil War. The
Volga Countryside in Revolution (1917-1921), Oxford 1989; Tanja Pen-
ter: Odessa 1917. Revolution an der Peripherie, Köln 2000; Stefan Karsch:
Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronež, 1917-
1919, Stuttgart 2006; Liudmila Novikova: The Russian Revolution from a
Provincial Perspective, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian
History 16/2015, H. 4., S. 769-785.
Lenin als idealisierter Führer der Revolution,
Gemälde von Alexander Gerassimov
Foto: picture alliance/ullstein bild
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932 Teil 3