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Der Erste Weltkrieg als Zäsur der Geschichte Bayerns

Einsichten und Perspektiven 4 | 17

den eigenen deutschen Landsleuten einen Paß, welches

Verlangen abzulehnen ist. Sie kontrollieren in aller Herr-

gottsfrühe die Hotels, die Polizisten sind unhöflich und

grob; […] Diese amtlichen Lümmeleien in Pensionen und

Hotels sprechen sich herum. […] [D]as haben die Frem-

den satt. Und so ist denn noch immer zu rufen: Reisende,

meidet Bayern!“

Der Erste Weltkrieg, so ist dies zu resümieren, war

unzweifelhaft eine wichtige Zäsur in der Geschichte Bay-

erns. In Deutschland, aber eben auch in Bayern war nach-

her nichts mehr wie zuvor.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die großen Verluste

an Menschen gehören dazu, an Künstlern, Schriftstel-

lern, Bürgers- und Arbeitersöhnen, an Familienvätern,

Ehepartnern, Kindheitsfreunden. In manchen Familien

blieben vier Söhne auf dem sogenannten „Feld der Ehre“,

die Hoffnung auf eine Zukunft wurde damit ausgelöscht.

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Eine ganze Generation kam entweder nicht mehr, oder

verletzt und traumatisiert aus dem Krieg zurück. Der

wirtschaftliche und politische Fortschrittsoptimismus der

prosperierenden Vorkriegsjahre war verschwunden; wer

überlebt hatte, entwickelte andere Handlungsstrategien

für die Nachkriegszeit.

Neben die individuellen Traumata trat die Vorstellung

vom Verlust der „nationalen Ehre“. Wie Korresponden-

zen zeigen, trafen sich in vielen Familien Väter und Söhne

in der Überzeugung, die „Schmach von Versailles“ müsse

beseitigt, Deutschlands Größe wiederhergestellt werden.

Die Dolchstoßlegende,

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mit deren Hilfe die politische

Rechte verräterische Bestrebungen innerhalb des Reiches

für die Niederlage verantwortlich zu machen versuchte,

fand auch deshalb so viele Anhänger, da in diesem Krieg

eine Niederlage und die damit verbundenen Friedensbe-

dingungen nicht im Vorstellungsbereich vieler Akteure

lagen. Zu lange und zu intensiv hatte die Propaganda

die Hoffnung auf ein siegreiches Ende genährt – trotz

der immensen Verluste an den Fronten, trotz der immer

größeren Not an der Heimatfront.

7

Nun war die Enttäu-

5 Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg,

Frankfurt am Main 2013; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Ge-

schichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.

6 Rainer Sammet: Dolchstoßlegende, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL:

<http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44479>

[Stand: 29.11.2013]; Irmtraud Permoser: Der Dolchstoßprozeß in Mün-

chen 1925, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 59 (1996),

903–927; Rainer Sammet, „Dolchstoss“. Deutschland und die Auseinan-

dersetzung mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg (1918–1933), Berlin

2003.

7 Benjamin Ziemann: Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im

südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997.

schung gewaltig, sie führte zur Realitätsverweigerung und

zur Suche nach Schuldigen. Gerade aus dieser Erfahrung

sahen die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg die

Notwendigkeit einer „Stunde Null“, einer anerkannten

totalen Niederlage, die schwelenden Ressentiments wenig

Boden geben und einen wirklichen Neuaufbau möglich

machen sollte; 

8

Franklin D. Roosevelt hatte als amerika-

nischer Außenpolitiker die erste Nachkriegszeit bewusst

erlebt und zog daraus für die zweite die Konsequenzen.

Nach 1918/19 stießen jedenfalls neue Ideologien, die

eine Wiederherstellung von Deutschlands Größe verspra-

chen und Schuldige benannten, in das bekannte Vakuum

einer nach wie vor autoritär strukturierten nachrevolutio-

nären Gesellschaft, die zusätzlich von Hunger und wirt-

schaftlicher Not, galoppierender Inflation und tiefer poli-

tischer Frustration geprägt war. Die „spanische Grippe“

wütete unter der geschwächten Bevölkerung und es star-

ben an dieser Krankheit mit bis zu 50 Millionen mehr

Menschen als im ganzen fürchterlichen Ersten Weltkrieg.

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Auch für die friedenssehnsüchtige Bevölkerung war der

Krieg 1918 noch nicht vorbei.

8 Hans Braun/Everhard Holtmann/Uta Gerhardt (Hg.): Die lange Stunde

Null: Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-

Baden 2007; Uta Gerhardt: Soziologie der Stunde Null – Zur Gesellschafts-

konzeption des amerikanischen Besatzungsregimes 1944–1945/1946,

Frankfurt am Main 2005.

9 Manfred Vasold: Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Welt-

krieg, Darmstadt 2009.

Die Abdankung König Ludwigs III. wird in den Münchner Neuesten Nach-

richten bekannt gemacht, 13. November 1918.

Foto: sz-photo/Scherl