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Der Erste Weltkrieg als Zäsur der Geschichte Bayerns
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
ausgeliefert zu sein. Für etliche wohlsituierte Bürger
führte der Weg von der „Landesbewaffnung“ der wehr-
haften Bürger in die Einwohnerwehren und in die spätere
SA und damit in den Nationalsozialismus. Wie Maria
Christina Müller am Beispiel der Münchner Kommer-
zienräte Max Kühner, Carl Flüggen, Josef Pschorr und
Eugen Zenz sowie des Augsburger Stadtwehrkomman-
danten Kommerzienrat August Pfaff herausgearbeitet
hat,
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waren solche Wege in den frühen zwanziger Jahren
keine Seltenheit. Sie setzten die entstehende SA, deren
ländliche Varianten Peter Longerich einmal als Mischung
aus Schützenverein und Freiwilliger Feuerwehr bezeich-
net hat,
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in eine Kontinuitätslinie zur Landwehr des 19.
Jahrhunderts und schuf damit für das bayerische Wirt-
schaftsbürgertum Verbindungen zur NS-Bewegung. Mit
der Wirtschaftskrise nach 1929 ließen sich diese problem-
los wieder aufnehmen, vor allem vor dem Hintergrund
der erneut wachsenden Angst vor der „roten Gefahr“.
Die bayerischen Industriellen hatten zunächst den
Krieg verschlafen.
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Sie dachten vermutlich, er würde nur
so kurz sein wie der Deutsch-Französische Krieg 1870/71.
Die norddeutschen Industriellen saßen längst an allen
Schaltstellen in den entscheidenden Zuteilungsgremien
für Rohstoffe und Kriegsaufträge, als die bayerischen
Industriellen 1916 aufwachten und sahen, dass sie kurz
vor der Schließung ihrer Betriebe standen. Fritz Müller
wurde als Wirtschaftsattaché nach Berlin entsandt, um
durch Überzeugungskraft, Bestechung und Ordensan-
gebote die bayerische Industrie wieder ins Spiel zu brin-
gen. Daher ging ein warmer Ordens- und Titelsegen auf
entsprechende Wirtschaftsleute nieder und die Bayern
erhielten im Gegenzug Aufträge. Mit dem Krieg und
diesen Kriegsaufträgen kam aber auch ein neuer Typus
von Industriellen zu Reichtum – die Kriegsgewinnler. Sie
gelangten ebenfalls zu Titeln und Orden. Wie ein Projekt
über die Bayerischen Kommerzienräte zeigt,
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durchsetz-
ten sie zunehmend die alte bayerische Unternehmerschaft
und veränderten deren Struktur.
32 Maria Christina Müller: Der Wehrverband als Bürgerpflicht? Mobilisierung
und Militarisierung in der bayerischen Wirtschaftselite nach dem Ersten
Weltkrieg (Augsburger historische Studien Bd. 2) [online], Augsburg Univ.
2015.
33 Peter Longerich: Geschichte der SA, München 2003, S. 12.
34 Zum Folgenden Marita Krauss: Die Königlich bayerischen Hoflieferanten,
München 2009, S. 70–83, das Kapitel Frieden und Krieg. Prinzregentenzeit
und Erster Weltkrieg.
35 Marita Krauss (Hg.): Die Bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche
Wirtschaftselite 1880–1928, München 2016.
Aber nicht nur die Bürger verschrieben sich der nationa-
len Sache. Gruppen, denen man vor dem Krieg die volle
bürgerliche Gleichwertigkeit verweigert hatte, erhofften
sich, im Krieg ihre nationale Zuverlässigkeit zeigen zu
können und dafür nach dem Krieg belohnt zu werden.
Dies betraf vor allem Arbeiter, Frauen und Juden, die sich
meist an Front und Heimatfront intensiv für die nationale
Sache eingesetzt hatten (übrigens nicht nur in Deutsch-
land – das galt ebenso für England, wo unter Frauen eine
regelrechte nationale Kriegseuphorie ausgebrochen war).
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Diese drei Gruppen wurden nun nach 1918 mit der
Gleichstellung belohnt, aber nicht etwa vom Deutschen
Kaiser und dem bayerischen König, für die sie gekämpft
hatten, sondern von der Republik: Acht-Stunden-Tag
und Regierungsmitverantwortung, Frauenwahlrecht und
Frauengleichstellung, rechtliche Gleichstellung der Juden
in der Weimarer Verfassung bekamen für manche einen
schalen Beigeschmack.
Außerdem erwiesen sie sich als Pyrrhussiege: Schon
während des Krieges und durch den Krieg war es zu einer
Spaltung der Arbeiterbewegung gekommen, die letztlich
in den Krisen der späten zwanziger und frühen dreißi-
ger Jahre verhängnisvolle Bedeutung für die Machtüber-
nahme der Nationalsozialisten bekommen sollte: Die
Furcht des Bürgertums vor „dem Bolschewismus“ desa-
vouierte die gesamte Arbeiterbewegung und verhinderte
eine gemeinsame Verteidigung der gefährdeten Demo-
kratie.
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Bei den Frauen engagierte sich im Krieg der „Nationale
Frauendienst“, den Gertrud Bäumer als Dachverband der
Frauenvereine organisierte und dem auch der Katholische
Frauenbund angehörte, zusammen mit den Kommunen
und dem Roten Kreuz in der Wohltätigkeit und der Woh-
nungsverteilung, der Versehrtenversorgung und Kinder-
fürsorge, sie eröffneten Volksküchen und kümmerten sich
um Schwangere. Auch die Frauenbewegung spaltete sich
in die Kriegsbegeisterten und die Pazifistinnen: Die Sozi-
aldemokratin Clara Zetkin, Sekretärin der Sozialistischen
Fraueninternationale, trat der USPD, später der KPD
bei. In München lebten die profilierten Frauenrechtle-
rinnen Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Hope
36 Sabine Hering: Die Kriegsgewinnlerinnen. Praxis und Ideologie der deut-
schen Frauenbewegung im Ersten Weltkrieg, Pfaffenweiler 1990; Alison S.
Fell (Hg.): The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives
1914–19, Basingstoke 2007.
37 Grau (wie Anm. 1); ders. (wie Anm. 10).