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Der Erste Weltkrieg als Zäsur der Geschichte Bayerns
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
vielen anderen Krisensituationen der Geschichte forcierten
der verlorene Krieg und die verlorenen Hoffnungen, dif-
fuse Ängste vor Besitzverlust und gesellschaftlichem Abstieg
den Anstieg des Antisemitismus, der in der Weimarer Zeit
mehrere Höhepunkte erlebte, darunter die Ausweisungs-
aktionen gegen Ostjuden unter Gustav von Kahr.
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Die
Feindbilder der Dolchstoßlegende trugen bereits alle äuße-
ren Merkmale des Rasseantisemitismus, der sich mit anti-
bolschewistischen und antimodernen Stereotypen verband:
Mit „den Juden“ lehnte man auch die kulturelle Moderne,
die mit „Berlin“ assoziiert wurde, ab. Die angeblichen
„Asphaltliteraten“ waren großstädtisch, links und jüdisch.
Diese Feindbilder verbanden konservative Kreise um Kahr
mit der radikalen Rechten des Deutsch-Völkischen Schutz-
und Trutzbundes oder der NSDAP.
45 Dirk Walter: Antisemitische Gewalt und Kriminalität. Judenfeindschaft in
der Weimarer Republik, Bonn 1999; ders.: Ungebetene Helfer – Denunzi-
ationen bei der Münchner Polizei anläßlich der Ostjuden-Ausweisungen
1919 bis 1923/24, in: Archiv für Polizeigeschichte 18 (1996), S. 14–20.
Die „Ordnungszelle Bayern“ wurde zum Sammelpunkt
aller der rechtsradikalen Kräfte, die nach dem Kappputsch
in Berlin nicht mehr reüssierten oder sogar steckbrief-
lich gesucht wurden. Politik, Militär, Verwaltung, Justiz
sowie der Einwohnerwehren arbeiteten eng zusammen;
in Bayern waren bis zu 400.000 Männer in den Wehren
organisiert.
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Diese paramilitärische Selbstorganisation
der Rechten stieß vor allem in Altbayern auf eine korre-
spondierende Struktur der „Volksbewaffnung“ in Schüt-
zenvereinen und Volkswehren.
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Einen Eindruck von der
Stimmung vermittelt der Bericht eines Agitators des ein-
flussreichen radikal antisemitischen „Deutsch-Völkischen
Schutz- und Trutzbundes“. Er berichtete im Oktober
46 Bruno Thoß: Einwohnerwehren, 1919–1921, in: Historisches Lexikon
Bayerns, URL:
<http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/arti-kel_44363> [Stand: 20.12.2014].
47 Müller (wie Anm. 32).
Einzug eines Freicorps in München, Mai 1919
Foto: sz-photo/Scherl