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Die Ausstellung „‚Rassendiagnose: Zigeuner‘. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf umAnerkennung“
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
teilweise den Männern und besonders Frauen der Min-
derheit zauberische Fähigkeiten nachgesagt - die man in
abergläubischer Weise gerne für sich nutzen wollte, z.B.
in der Tierheilkunst, die in der ländlichen Gesellschaft
von großer Bedeutung war. Daneben gab es auch eine fast
märchenhafte Idealisierung bestimmter Stereotypen, die
mit Sinti und Roma verbunden wurden, so besonders auf
dem Feld der Musik. Die Realität war zweifellos zumeist
viel prosaischer.
In dieser jahrhundertealten, trotz großer Reibungsflä-
chen dennoch gemeinsamen Geschichte von Minderheit
und Mehrheit stellt der nationalsozialistische Völkermord
eine jähe Zäsur dar. Zwar wurden Sinti und Roma auch in
früherer Zeit häufig aus bestimmten Städten oder Gemein-
den vertrieben, und seit dem ausgehenden 19. Jahrhun-
dert führte die Polizei eine Meldepflicht ein und begann
Karteien zu führen, in denen viele lokale Informationen
zusammengetragen wurden; aber erst seit 1933 kam es
zu einer über große Teile Europas hinweg koordinierten,
umfassenden Verfolgung, in deren Mittelpunkt immer
mehr das Ziel der Ermordung der Angehörigen der Min-
derheit rückte. Der Zweite Weltkrieg wurde vom Deut-
schen Reich mit dem Ziel begonnen, Europa eine deutsche
Hegemonie aufzuzwingen, und zugleich ein bestimmtes
Gesellschaftsbild in Europa durchzusetzen. An die Stelle
von Staaten mit komplexen Entscheidungswegen, aus-
balancierten Machtverhältnissen und einem autonomen
Rechtssystem sollte die einfache Gefolgschaftsbeziehung
von „Führer“ und Volk treten, an die Stelle kultureller,
religiöser und individueller Vielfalt trat eine krude Vorstel-
lung von „Rassereinheit“ und biologischer „Gesundheit“.
Wie der Krieg nach außen unersättlich neue Schlachtfel-
der suchte, wurden im Inneren immer weitere Gruppen als
Feinde definiert, ausgegrenzt und schließlich ermordet. Die
größte Gruppe der Verfolgten waren die Juden. Aber mit
großer Selbstverständlichkeit wurden die Mittel der Ver-
folgung auch auf Sinti und Roma angewandt. Sie wurden
ebenso wie die Juden nach rassistischen Kriterien aus der
„Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt und als Feindbild defi-
niert, und auch bei ihnen griffen die schrittweise Entrech-
tung, die Durchführung der Deportationen und schließlich
die Ermordung eng ineinander. Und dennoch ist es eine
besondere Geschichte mit zeitlichen und geographischen
Abweichungen und eigenen Charakteristika. Auch deshalb
ist es angebracht, an sie gesondert zu erinnern.
Die Ausstellung in Ingolstadt
Ein besonderes Anliegen der Ausstellung ist es, der großen
Erzählung der Geschichte eine eigene Sicht der Geschichte
an die Seite zu stellen, in der die Angehörigen der verfolgten
Minderheit selbst zu Wort kommen. Im Mittelpunkt steht
dabei die Absicht, die Gesichter der betroffenen Menschen
zu zeigen - auf Fotografien, die entstanden, bevor sie ihrer
Würde beraubt wurden. Ausgewählte Biographien sind auf
besonderen Schautafeln zu sehen, die sich durch ihre blaue
Hintergrundfarbe von den anderen Tafeln unterscheiden.
Die Motive zeigen die Menschen in normalen Lebenssitu-
ationen und kontrastieren die Bilder der Diskriminierung
und des Leides mit solchen stolzer, glücklicher und hoff-
nungsvoller Menschen. Auch diese Fotografien haben oft
einen doppelten Boden, sei es einfach die individuelle Eitel-
keit, sei es der allzu offensichtliche Wunsch nach bürgerli-
cher Reputation, die im wirklichen Leben wohl oft doch
nicht gewährt wurde, oder sei es die Suggestion einer Nor-
malität, die schon zu ihrer Entstehungszeit möglicherweise
eine Illusion war. In mancher Hinsicht sind diese Bilder
sogar komplexer als die Bilddokumente der Gewaltherr-
schaft, denn die Spuren der Diskriminierung und Unter-
scheidung von der Mehrheitsgesellschaft, die auch in ihnen
gefunden werden können, sind für uns heute nicht immer
offensichtlich. Wesentlich an ihnen sind jedoch nicht nur
der dargestellte Mensch und der mehr oder weniger kli-
scheehafte fotografische Code, dem sie folgen, sondern es
geht zugleich um die Art ihrer Überlieferung: Es handelt
sich häufig um Fotografien aus familiärem Besitz, die schon
durch die Tatsache ihrer Erhaltung bezeugen, dass der oder
die Dargestellte Liebe und Achtung erfuhr. Sie sind also
Zeugnisse persönlicher Beziehungen.
Die Ausstellung wurde im Dokumentationszentrum
Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg konzipiert und
gestaltet. Die Realisierung erfolgte mit der Unterstüt-
zung der Kulturstiftung des Bundes. Sie war zuvor schon
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,
erklärt Angehörigen der Bundeswehr die Ausstellung.
Foto: Katharina Kellner