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Die Ausstellung „‚Rassendiagnose: Zigeuner‘. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf umAnerkennung“

Einsichten und Perspektiven 4 | 17

schenversuche zog er vor allem Zwillingskinder heran. Die

Ausstellung zeigt exemplarisch sowohl persönliche Zeug-

nisse wie Dokumente der Lagerverwaltung. In mehreren

großen Tafeln versucht sie, wenigstens einigen wenigen der

ermordeten Menschen mit Fotografien aus ihrem früheren

Leben ein kleines Stück ihrer Würde zurückzugeben.

Als die SS angesichts des Vormarsches der Roten Armee

versuchte, das sog. „Zigeunerlager“ aufzulösen und die

verbleibenden Zeugen ihrer Verbrechen zu ermorden,

wagten die Insassen die Gegenwehr. Immerhin wurden

daraufhin etwa 3.000 Sinti und Roma in andere Kon-

zentrationslager im Reich verlegt. Die Verbleibenden, vor

allem Frauen, Alte und Kinder, wurden in der Nacht vom

2. auf 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet.

Der 2. August ist heute der Erinnerungstag der Sinti und

Roma an den Holocaust.

Der dritte Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit der

Nachkriegszeit. Sie schildert zunächst das Schicksal eini-

ger Überlebender des Holocaust in Deutschland. Einige

wenige konnten tatsächlich in der Bundesrepublik wieder

Fuß fassen, zumeist aber kam zum Verlust vieler Familien-

angehöriger Armut und Heimatlosigkeit hinzu. Vor allem

fanden viele keinerlei Unterstützung bei den Behörden,

in denen sie manchmal den Beamten der NS-Zeit wieder

begegneten. Sinti und Roma sahen sich weiterhin einem

Generalverdacht ausgesetzt und wurden überwacht oder

mussten sich regelmäßig bei der Polizei melden. Zugleich

machten die „Forscher“, die in der „Rassenhygienischen

Forschungsstelle“ tätig gewesen waren, praktisch unbe-

helligt weiter Karriere. Entschädigungen für erlittenes

Unrecht wurden durch die Rechtsprechung des Bundes-

gerichtshofes sehr erschwert. Er stellte in einem Grund-

satzurteil am 7. Januar 1956 fest, dass Sinti und Roma vor

dem Dezember 1942 nicht aus rassischen Gründen ver-

folgt worden seien. Auch seit der Revision dieses Urteils

im Jahr 1963 änderte sich die Situation erst sehr langsam.

Die Rechtsstellung der Sinti und Roma blieb oft prekär.

Die Ausstellung berichtet etwa von dem Auschwitz-Über-

lebenden Reinhard Florian, der aus Ostpreußen stammte

und dem es erst in den 80er Jahren gelang, die deutsche

Staatsbürgerschaft zu erlangen.

Den Abschluss der Ausstellung bildet einerseits eine

knappe Dokumentation des Weges zur öffentlichen

Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma.

Andererseits weist die Ausstellung aber auch darauf hin,

dass Sinti und Roma gerade im Osten Europas vielfach

zu den Verlierern der politischen und ökonomischen

Umbrüche nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr

1989 gehören.

Literaturempfehlungen:

Klaus-Michael Bogdal:

Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte

von Faszination und Verachtung, Berlin 2011.

Karola Fings:

Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit,

München 2016.

Alfred Lessing:

Mein Leben im Versteck. Wie ein deutscher Sinti

den Holocaust überlebte, Düsseldorf 1993.

Gilad Margalit:

Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“.

Die Behandlung der Sinti und Roma im Schat-

ten von Auschwitz, Berlin 2001.

Oliver von Mengersen (Koord.):

Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit

zwischen Diskriminierung und Emanzipation,

hg. von der Bayerischen Landeszentrale für

politische Bildungsarbeit/Bundeszentrale für

politische Bildung, Bonn/München 2015.

Frank Reuter:

Der Bann des Fremden. Die fotografische

Rekonstruktion des ‚Zigeuners‘, Göttingen 2014.

Anja Tuckermann:

„Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensge-

schichte des Sinto Hugo Höllenreiner, Mün-

chen 2005.

Die Verfolgung der Sinti und Roma in Mün-

chen und Bayern 1933-1945, hg. v. Winfried

Nerdinger für das NS-Dokumentationszentrum

München, München 2016.

Patrik Wagner:

Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzep-

tion und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit

der Weimarer Republik und des Nationalsozia-

lismus, Hamburg 1996.