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Israel: Start-ups, Siedler und „smarte Pazifisten“
Einsichten und Perspektiven 3 | 17
Eine israelische Bevölkerungsgruppe, die in der
Debatte um soziale Gerechtigkeit oftmals vergessen wird,
findet man ebenfalls in Tel Aviv, insbesondere im Süden
der Stadt, in den Vierteln Neve Scha’anan und Ha’tikva.
Es handelt sich um Asylsuchende; die meisten von ihnen
stammen aus den afrikanischen Ländern Eritrea und
Sudan, rund 45.000 sind es mittlerweile. Während in
Deutschland die Gesamtschutzquote beispielsweise der
Asylsuchenden aus Eritrea derzeit bei mehr als zwei Drit-
teln der Bewerber liegt,
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gehen die Erfolgsquoten im Asyl-
verfahren für Sudanesen und Eritreer in Israel gegen Null
– abgeschoben werden sie aber nicht. Arbeiten dürfen die
Betroffenen weder während des laufenden Asylverfahrens,
das sich in der Regel über Jahre hinzieht, noch nachdem
sie abgelehnt wurden. Im besten Fall arbeiten sie schwarz,
nicht wenige rutschen in die Kriminalität ab. Der zentrale
Busbahnhof in Neve Scha’anan gilt vielen nachts als No-
Go-Area, obwohl die nächste Polizeistation gleich um die
Ecke ist. Die Finn-Straße in der Nähe ist berüchtigt für
Drogen und Prostitution. „Hier nachts herumzulaufen ist
nicht notwendigerweise gefährlich, aber du wirst dich sehr
unwohl fühlen“, sagt Heela Harel.
Die freiberufliche Grafikdesignerin gehört zu CTLV,
einer Gruppe von Unternehmern, Aktivisten, Künst-
lern und Journalisten, die alternative Touren durch Tel
Aviv anbietet. Sie gehen an Orte, die Touristen norma-
lerweise nicht gezeigt werden. Harel erklärt das Viertel
Neve Scha’anan, das in den 1920er Jahren von Juden aus
Jaffa, das heute ebenfalls ein Stadtteil Tel Avivs ist, besie-
delt worden war. 98 Prozent der Menschen, die heute
hier leben, sind weder Juden, noch haben sie die israeli-
sche Staatsangehörigkeit: Es handelt sich um afrikanische
Asylsuchende und Arbeitsmigranten von den Philippinen,
aus Thailand und China. Bürgerschaftliches Engagement
habe die Verantwortung für die Menschen übernommen,
während sich der Staat heraushält, sagt Harel. Ein Beispiel
ist die Levinsky-Bibliothek, ein offenes Haus mit Büchern
in 18 unterschiedlichen Sprachen, das mittlerweile zum
Treffpunkt für Leute aus der Nachbarschaft geworden ist;
es werden Aktivitäten für Kinder organisiert. Der Dialog
zwischen den unterschiedlichen Migrantengruppen soll
dabei helfen, eine Gemeinschaft zu schaffen.
44 Vgl. den Asylgeschäftsbericht des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge (BAMF), August 2017, S. 7,
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201708-statistik-anlage-
asyl-geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile [Stand: 20.09.2017].
„Viele Israelis nennen Asylsuchende ‚Eindringlinge’“,
sagt Harel. Mittlerweile hat sich die Bezeichnung auch in
der offiziellen Sprache durchgesetzt: Das „Gesetz gegen
das Eindringen“ ermöglichte 2012 die Errichtung eines
neuen Gefängnisses für Asylsuchende namens Holot in
der Wüste Negev; auf illegale Einreise nach Israel sind
mindestens drei Jahre Haft vorgesehen.
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Die Betroffenen
werden vor die Wahl gestellt: Entweder Haft in Holot
oder eine Finanzspritze und die freiwillige Ausreise nach
Uganda oder Ruanda. Tausende verlassen Israel nach die-
sem Angebot. „Es ist mir wirklich peinlich, das zu sagen,
aber die israelische Politik denkt, dass eine Gruppe nicht-
jüdischer Asylsuchender das Land aus dem Gleichgewicht
bringt. Wenn man die Asylsuchenden ausbilden würde,
anstatt Arbeitsmigranten ins Land zu holen, wäre schon
viel gewonnen“, sagt Heela Harel.
Ein Staat wie jeder andere?
Sie sagt auch: „Ich denke, dass man eine internatio-
nale Abmachung respektieren sollte, wenn man sie unter-
schrieben hat.“ Sie spricht damit einen wunden Punkt an.
Bereits in der Unabhängigkeitserklärung des jüdischen
Staates von 1948 ist formuliert: „Es ist das natürliche
Recht des jüdischen Volkes, ein Leben wie jedes andere
Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen.“
Zum Ausdruck kommt hier der Wunsch nach Normali-
tät. Gleichzeitig ist Israel „aus der Idee heraus geboren,
anders zu sein und ein Vorbild für den Rest der Welt
darzustellen“,
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schreibt der Münchner Historiker und
Israel-Experte Michael Brenner. Ein Vorbild, die einzige
Demokratie im Nahen Osten, wie oftmals betont wird,
muss es sich zuweilen gefallen lassen, dass seine eigenen
Bürger, die es lieben, aber auch die Teile des Auslands, die
es schätzen und seine Existenz nicht infrage stellen, durch-
aus hinsehen, wenn es um geteilte Werte geht. Dabei soll-
ten für Israel keine engeren Maßstäbe gelten als für andere
Staaten.
45 Vgl. den Bericht der Hilfsorganisation
medico international
: In die Wüste
geschickt. Israel: Repressionen gegen afrikanische Flüchtlinge verschärft,
28.04.2014,
https://www.medico.de/in-die-wueste-geschickt-14745/[Stand: 20.09.2017].
46 Brenner (wie Anm. 21), S. 8.