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Einsichten und Perspektiven 3 | 17
ihrem Unmut an den bestehenden Verhältnissen Luft zu
machen. Russland schien einfach nicht mehr zur Ruhe zu
kommen; die soziale und politische Lage blieb explosiv.
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Das galt auch auf dem Feld der Nationalitätenpolitik.
Nach 1907 erhielten russisch-nationalistische Kräfte weite-
ren Aufwind. Zeitgenössische Korrespondenten wunderten
sich über den „zoologischen Nationalismus“ des Petersbur-
ger Politikestablishments, das mit seiner Diskreditierung
der Nichtrussen der zarischen Volkswirtschaft und dem
gesellschaftlichen Miteinander großen Schaden zufüge.
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Aber Zar und Regierung konnten das Rad nicht mehr
auf die Zeit vor 1905 zurückdrehen. An den Rändern des
Zarenreichs standen das Imperiale, das Russische und das
Nationale weiter in einem Spannungsverhältnis zueinander,
das sich nicht entschärfen ließ.
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Bei seinemRusslandbesuch
1913 sprach der französische Präsident Raymond Poincaré
darum voller Neugierde, aber auch voller Angst davon, dass
das majestätische Riesenreich „in seinen Fugen krachte“.
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Die Wegzeichen des russischen Fin de siècle
Überall in Europa gab es in der Zeit vor dem Ersten Welt-
krieg die Vorahnung, eine Epochenwende stehe unmit-
telbar bevor. Die Welt des Fin de siècle kennzeichnete
ein Schwanken zwischen Aufbruchs- und Endzeitstim-
mung.
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Die „Synergie von durativen, durch Kontinuität
bewahrenden und explosiven, durch Zerstörung erneu-
ernden Prozessen“ führte zu einem allgemeinen Taumel
der Zeit, der wegen des „kaleidoskopartigen Zusammen-
schießen des Ungleichen“ nirgendwo deutlicher spürbar
als in Russland war.
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Zwar hatte das Zarenreich ein ers-
tes revolutionäres Vorbeben überstanden; sein politischer
Aggregatzustand blieb angesichts „vieler Blockaden und
Knoten“ sowie einer „Überlast an Problemen“ aber wei-
terhin äußerst instabil.
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58 Neutatz (wie Anm. 26), S. 132-134; Robert B. McKean: St. Petersburg bet-
ween the Revolutions. Workers and Revolutionaries, June 1907 - February
1917, New Haven 1990, S. 192-268 u. 297-317; Bernd Bonwetsch: Die
Russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefrei-
ung 1861 bis zum Oktoberumsturz, Darmstadt 1991, S. 84-94; Michael
Melancon: The Lena Goldfields Massacre and the Crisis of the Late Tsarist
State, College Station 2006.
59 Zit. n. Ingold (wie Anm. 57), S. 37 f.
60 Kappeler (wie Anm. 23), S. 280-283; Figes (wie Anm. 1), S. 262-268; Helmut
Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Pader-
born 1997, S. 70-74.
61 Ingold (wie Anm. 57), S. 49.
62 Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München
2009; Michael Saler (Hg.): The Fin-de-siècle World, London 2015.
63 Ingold (wie Anm. 57), S. 10 u. 23.
64 Hildermeier (wie Anm. 17), S. 1059 f.
Diese Zeit von 1905 bis 1914 gilt als eine der wider-
sprüchlichsten Phasen der russischen Geschichte, um deren
Interpretation bis heute die historische Forschung ringt.
Die sogenannten Optimisten verweisen auf die anhaltende
Hochkonjunktur der russischen Wirtschaft seit 1907, die
sowohl die Umgestaltung des gesamten Reichs vorantrieb
als auch einen soliden Staatshaushalt gewährleistete. Zudem
war mit der Gewährung bürgerlicher Freiheitsrechte eine
bis dahin unbekannte Form politischer Öffentlichkeit ent-
standen. Eine Zivilgesellschaft begann sich zu formieren.
Zusammen mit der neuen Parteilandschaft war sie – das
betonen die sogenannten Pessimisten – jedoch nicht stark
genug, um einen wirklich grundlegenden Wandel der Ord-
nung herbeiführen, diese zukunftsfähig machen und damit
die Revolution verhindern zu können. Im Gegenteil: die
neuen gesellschaftlichen Debatten lösten „eine Welle der
Politisierung aus, die bestehende Institutionen umging –
und daher nicht zu lenken war.“
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Terror, Pogrome und
überzogene staatliche Strafaktionen schufen eine Gewalt-
spirale, deren Eskalationsmechanismen leicht in Gang
gesetzt werden konnten. Der Eindruck „eines allgegenwär-
tigen und tiefsitzenden – ideologisch, ethnisch und sozial
motivierten – Hasses“ ließ die Zeit vor dem Ersten Welt-
krieg als besonders bedrohlich erscheinen.
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Die gegensei-
tige Verachtung der politischen Akteure und die Radika-
lisierung des Zeitgeists führten allerorten zu Verbitterung
und erschwerten es, Wege des Ausgleichs und Kompromis-
ses zu beschreiten. Es hätte darum „eines Wunders bedurft,
um Russland den organischen und friedlichen Übergang in
eine konstitutionelle Demokratie zu ermöglichen.“
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Angesichts der tiefen Zerrissenheit der Gesellschaft ran-
gen sich führende russische Denker zu einer kritischen
Standortbestimmung durch, die ihren Niederschlag 1909
im berühmten Sammelband Vechi (Wegzeichen) fand. In
ihren Beiträgen warfen Philosophen und Publizisten wie
Nikolaj Berdjaev, Sergej Bulgakov, Petr Struve und Semjon
Frank, die sich früher selbst für liberale und marxistische
Ideen begeistert hatten, den Intellektuellen und Revolutio-
nären vor, diese hätten sich in ihrer Bigotterie und Überheb-
lichkeit selbst dazu ermächtigt, die Rolle des Anwalts und
Erziehers des einfachen Volkes zu spielen. Tatsächlich habe
diese Radikalisierung der Intelligenz aber nur zur Revoluti-
onierung der einfachen Bevölkerung geführt, um die gesell-
schaftlichen Konflikte ungezügelt explodieren zu lassen.
65 Schmidt (wie Anm. 53), S. 109.
66 Pipes (wie Anm. 55), S. 340.
67 Martin Malia: Vollstreckter Wahn. Russland 1917-1991, Stuttgart 1994, S. 110.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932