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Einsichten und Perspektiven 3 | 17
erhoben immer lauter den Ruf nach Selbstverwaltung.
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Mit dem Oktobermanifest kam ein neuer Wind in
die russische Politik; es eröffnete Chancen und Optio-
nen, um auf dem Weg der Verständigung und Aushand-
lung den herbeigesehnten Wandel zu erreichen. Darum
wurde in Russland das Oktobermanifest freudig begrüßt.
Die damalige hoffnungsvolle Stimmung fing Il‘ja Repin
(1844-1930) in seinem Gemälde „Demonstration am
17. Oktober 1905“ gut ein. Darauf führt eine Blaskapelle
einen bunt gemischten Freudenumzug an. Ein Mann wird
auf Schultern getragen; seine Ketten sind gesprengt. Die
Menschen führen unterschiedliche Fahnen mit sich: die
russische Trikolore, die rote Flagge und eine weiße Fahne
mit der Aufschrift „1905, 17. Oktober“. Wer sich das
Gemälde näher anschaut, erkennt aber auch, dass unge-
achtet des allgemeinen Freudentaumels einige Gesichter
mit Skepsis nach vorne schauen, wie sich denn der neu
eingeschlagene politische Kurs konkret gestalten ließ.
Diese Besorgnis war durchaus berechtigt.
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In vielen
Städten gab es einen erneuten Ausbruch antisemitischer
38 Kappeler (wie Anm. 23), S. 268-277; Rolf (wie Anm. 27), S. 373-398.
39 Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimpe-
rium, München 2017, S. 44 f.
ten und andere gesellschaftliche Organisationen bilden, um
fortan nicht mehr im Untergrund, sondern in der öffent-
lichen Arena des Politischen die Interessen sozialer Grup-
pen zu artikulieren. Mit der Entstehung einer Presse- und
Parteienlandschaft machte das Oktobermanifest endlich
den Weg frei, damit sich die russische Gesellschaft politisch
organisieren und ihre Programme sowie Ideen öffentlich
kundtun konnte.
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Vor allem den Nationalbewegungen verlieh das Okto-
bermanifest Flügel und leitete einen „Völkerfrühling“
ein. In den nichtrussischen Gebieten entstanden natio-
nale Parteien, Organisationen und Presseorgane. Nicht
nur in Polen, in der Ukraine, im Baltikum und Kaukasus
gewann das Nationale zunehmend an politischer Schlag-
kraft; selbst bei den sibirischen Völkern wie den Burjaten
und Jakuten ließen sich damals erste Prozesse einer eth-
nischen Mobilisierung beobachten. Deren Protagonisten
publizierten zunehmend Bücher in ihrer Muttersprache,
drängten auf den Aufbau eines eigenen Schulwesens und
37 Zum Oktobermanifest und seinen Folgen vgl. Enticott (wie Anm. 13), S.
62-66; Manfred Hagen: Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Russ-
land, 1906-1914, Wiesbaden 1982; Andrew M. Verner: The Crisis of Rus-
sian Autocracy. Nicolas II. and the 1905 Revolution, Princeton 1990, S.
218-245; Melissa K. Stockdale: Paul Miliukov and the Quest for a Liberal
Russia, 1880-1918, Ithaca 1996, S. 128-169.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932
Il‘ja Repin: „Demonstration am 17. Oktober 1905“
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