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Einsichten und Perspektiven 3 | 17

Gewalt, weil Nationalisten und Monarchisten hinter dem

Oktobermanifest jüdische Verschwörer witterten, die den

Zaren beschimpft und die Wirren genutzt hätten, um die

Autokratie zu beseitigen. Als Folge der massiven Pogrome

von 1905 stieg die jüdische Migration aus dem Zarenreich

vor allem nach Nordamerika massiv an.

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Zudem hörten die Aufstände und Unruhen keines-

wegs auf. In Moskau kam es zu einem erneuten Arbei-

teraufstand, den Gardetruppen im Dezember 1905 rück-

sichtslos niederschlugen und dabei über 700 Menschen,

darunter auch Frauen und Kinder, töteten.

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Auch die

Bauernaufstände erlebten noch einmal einen weiteren

Höhepunkt. Die russische Regierung schickte daraufhin

die gefürchteten Kosakenregimenter über das Land, um

Dorf für Dorf auf brutale Weise zu befrieden. Angesichts

der Überlegenheit und Brutalität der Staatsgewalt verzich-

teten die Bauern bald auf weitere Übergriffe und versuch-

ten verstärkt, ihre Ansprüche auf friedlichem Weg durch-

zusetzen, indem sie Gerichte und Behörden anriefen oder

sich bemühten, den Adligen Land abzukaufen.

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Die russische Autokratie hatte sich mit dem Oktober-

manifest noch einmal aus höchster Not befreit. Die revo-

lutionäre Umwälzung war ausgeblieben, nicht zuletzt weil

die Aussichten auf ein Parlament und eine Verfassung der

liberalen Oppositionsbewegung den politischen Wind aus

den Segeln genommen hatte. Nikolaj II. hatte mit dem

Blutsonntag und den ausufernden Repressionen wohl

seinen Nimbus als gütiger und gerechter Herrscher, aber

längst noch nicht seine autokratische Starrsinnigkeit ver-

loren.

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Als sich die Situation allmählich wieder beruhigte,

setzte er fortan alles daran, der Mitbestimmung der Reichs-

duma möglichst enge Grenzen zu setzen und von seinen

Versprechen abzurücken, den politischen Prozess für neue

gesellschaftliche Kräfte zu öffnen. Die Forderung der

Liberalen nach einer verfassungsgebenden Versammlung,

die über die weitere Gestaltung der politischen Ordnung

40 Steinberg (wie Anm. 24), S. 51 f.; Robert Weinberg: The Russian Right

Responds to 1905. Visual Depictions of Jews in Postrevolutionary Rus-

sia, in: Stefani Hoffman/Ezra Mendelsohn (Hg.): The Revolution of 1905

and Russia’s Jews, Philadelphia 2008, S. 55-69; Rebecca Kobrin: The 1905

Revolution Abroad. Mass Migration, Russian Jewish Liberalism and Ame-

rican Jewry, 1903-1914, in: ebd., S. 227-244.

41 Kusber (wie Anm. 12), S. 110-115; Hildermeier (wie Anm. 17), S. 1018 ff.;

Ascher (wie Anm. 14), S. 304-323. Zu ähnlichen Gewaltexzessen kam es

gegen Jahresende von 1905 in den Industriegebieten der Ukraine. Vgl.

dazu die Fallstudien von Schnell (wie Anm. 15), S. 104-144.

42 Ascher (wie Anm. 14), S. 325-336; Hildermeier (wie Anm. 17), S. 1023-

1030; Neutatz (wie Anm. 26), S. 117 f.

43 Richard Wortman: Nicholas II. and the Revolution, in: Hoffman/Mendel-

sohn (wie Anm. 40), S. 31-45.

Russlands entscheiden sollte, überging der Zar geflissent-

lich. Stattdessen erließ Nikolaj II. am 23. April 1906 im

politischen Alleingang Grundgesetze. Seine von oben okt-

royierte Verfassung schrieb zwar die schon erreichten bür-

gerlichen Freiheiten noch einmal fest. Aber sie versagte der

Reichsduma die Mitsprache bei militärischen Dingen, bei

der Außenpolitik und bei der Ernennung von Ministern.

Zudem sorgten Notverordnungen und besondere Rege-

lungen dafür, dass die Reichsduma bei Gesetzgebung und

Haushaltsfragen kaum Einfluss auf die Entscheidungen

nehmen konnte. Die Grundgesetze bestätigten eigentlich

noch einmal die autokratische Alleinherrschaft und ver-

lagerten die politischen Gewichte eindeutig zu Gunsten

der Regierung. Die mit dem Oktobermanifest in Aussicht

gestellte modern verfasste konstitutionelle Monarchie

nahm daher in Russland keine Gestalt an.

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Nikolaj II. war vor allem darauf bedacht, die Reichs-

duma auf Distanz zu halten. Deshalb trat die gewählte

Volksvertretung im Taurischen Palast an einem Ort

zusammen, der vom Zarenhof am Winterpalais und den

benachbarten Regierungsgebäuden deutlich entfernt

lag.

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Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber, der

in Heidelberg in engen Kontakt mit russischen Studen-

tengruppen stand, verfolgte diese politischen Ereignisse

in Petersburg mit großer Skepsis und sprach von einem

„Scheinkonstitutionalismus“, der im Zarenreich als Folge

der Revolution von 1905 entstanden sei.

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Wie sehr der Zarenhof das konstitutionell-parlamenta-

rische Experiment sabotierte, auf das sich Russland einge-

lassen hatte, zeigten vor allem dieWahlen zur Reichsduma.

Trotz eines den Adel begünstigenden Zensuswahlrechts

setzten sich die 1. und 2. Reichsduma mehrheitlich aus

Kritikern des Zarismus zusammen. Die Wahlergebnisse

verdeutlichten, wie groß die Kluft zwischen Regime und

Bevölkerung eigentlich war.

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Weil Nikolaj II. unter allen

Umständen eine Beschränkung seiner Alleinherrschaft

vermeiden wollte, löste er die 1. und 2. Reichsduma nach

44 Verner (wie Anm. 37) , S. 281-350; Hildermeier (wie Anm. 17), S. 1050-

1059; Ascher (wie Anm. 14), S. 62-80.

45 Jan Kusber: Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009, S. 109 f.

46 Max Weber: Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden

1905–1912. Hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Dittmar Dahlmann.

(=Max Weber Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 10),

Tübingen 1989; Dittmar Dahlmann: Max Weber und Rußland, in: ders./

Wilfried Potthoff (Hg.): Deutschland und Rußland. Aspekte kultureller und

wissenschaftlicher Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wies-

baden 2004, S. 253-275.

47 Enticott (wie Anm. 13) , S. 103-139.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932