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Einsichten und Perspektiven 3 | 17

Die Vechi-Autoren riefen darum dringend zur Mäßigung

auf. Die Gebildeten sollten endlich aus ihren weltfremden

Tagträumen erwachen, den Habitus der Fundamentaloppo-

sition hinter sich lassen und sich konstruktiv um die Verbes-

serung der Verhältnisse sowie um die Kultivierung geistiger

Werte kümmern. Nur so könnten sie Bauern und Arbeitern

ein Vorbild geben, um zu verhindern, dass das gesamte Land

in den Strudel von Chaos und Vernichtung stürze.

68

Der Sammelband galt 1909 als politische Sensation, weil

er als prophetisches Werk deutlich machte, dass Russland

an einer Wegscheide stand. Ganz in diesem Sinne konsta-

tierte der russische Lyriker Aleksandr Blok damals „Gefühle

von Unbehagen, Angst, Katastrophe, Explosion […]. Wir

wissen noch nicht genau, welche Ereignisse auf uns warten,

doch in unseren Herzen hat die Nadel des Seismographen

bereits zu zittern begonnen.“

69

Die Frage nach der Reform- und Überlebensfähigkeit

des Zarismus gab am Vorabend des Ersten Weltkriegs

offensichtlich viel Grund zur Besorgnis. Dennoch wohnte

dem Russischen Revolutionszyklus keine inhärente Logik

inne, die – 1905 einmal in Gang gesetzt – nicht aufzuhal-

ten gewesen sei. Auch wenn sich die politischen Möglich-

68 Zu diesem Sammelband vgl. Karl Schlögel (Hg.): Vechi – Wegzeichen. Zur

Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt 1990; Rainer Goldt: Die Revo-

lution und ihre Intellektuellen. Der Sammelband „Vechi“ (Wegzeichen) im

Kontext seiner Zeit, in: Kusber/Frings (wie Anm. 15), S. 383-412.

69 Zit. n. Pipes (wie Anm. 55), S. 341.

keitsräume, die sich in den bewegenden Jahren nach der

ersten Russischen Revolution eröffnet hatten, durch die

anschließenden Entscheidungen der historischen Akteure

sukzessive verengten, barg das Zarenreich selbst 1913 noch

einige Entwicklungswege in sich. Eine Revolution erschien

damals vielen durchaus denkbar; aber keineswegs unver-

meidbar.

70

Erneut war es der Krieg, der zum Geburtshel-

fer der Revolution und dieses Mal dann auch zum Toten-

gräber des Zarenregimes wurde, das sich 1914 auf einen

„Höllensturz“

71

einließ, aus dem es nicht als Triumphator

hervorgehen konnte.

70 Aust (wie Anm. 39), S. 62 f.

71 Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016.

Der französische Präsident Poincaré (im schwarzen Anzug mit Schärpe) auf

Staatsbesuch in Russland beim Abschreiten der Ehrenwache in St. Petersburg,

1914

Foto: ullstein bild/Fotograf: Karl Bulla

Der russische Schriftsteller Aleksandr Blok, Aufnahme um 1900

Foto: ullsteinbild/Heritage Images/Fine Art Images

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932