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Einsichten und Perspektiven 3 | 17
Stolypins ehrgeizigstes konservatives Modernisierungs-
projekt war die Agrarreform, mit der er den ersten staat-
lichen Versuch startete, die überlieferte Dorfordnung und
damit die bäuerliche Solidargemeinschaft zu zerstören.
Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 waren die
Bauern zwar persönlich frei; sie blieben aber weiterhin an
ihre Dorfgemeinde gebunden. Diese und nicht der ein-
zelne Bauer besaß das von den Gutsherren abgelöste Land
und verteilte es an die einzelnen bäuerlichen Haushalte.
Je größer das zugeteilte Ackerland, desto größer war die
vom Bauernhaushalt zu erbringende Steuer- und Abgabe-
last. Alle Bewohner einer Gemeinde standen in kollektiver
Haftpflicht und mussten Zahlungsrückstände ihrer Nach-
barn kompensieren. Infolge dieser Umverteilung von
Land und Abgaben wirkten im russischen Dorf Egalisie-
rungsmechanismen, die eine starke soziale Ausdifferenzie-
rung der Bauerngesellschaft in Arm und Reich hemmten.
Im Herbst 1906 erließ Stolypin ein Gesetz, das es
dem einzelnen Bauer ermöglichte, aus der Dorfgemeinde
auszutreten und die von ihm bearbeiteten Äcker in sein
Privateigentum umzuwandeln. Ziel war es, einerseits die
Dorfgemeinde als Hort bäuerlichen Widerstands stillzu-
legen, andererseits eine ökonomisch leistungsstarke und
loyale Schicht von Mittelbauern zu schaffen, die auf dem
Land zur neuen sozialen Basis des Zarenregimes werden
könnte. Flankiert wurde diese Agrarreform mit geringver-
zinsten Krediten, mit Bildungsprogrammen zur Verbrei-
tung neuen agrarischen Wissens und mit der Förderung
des Genossenschaftswesens, um die Bauern für den kapi-
talistischen Agrarmarkt fitzumachen und ihnen die Lust
an der Revolution zu nehmen.
Bis 1915 nutzte schließlich knapp ein Viertel aller russi-
schen Bauern die neuen Regelungen und schied aus ihren
Dorfgemeinden aus. Zu Privatisierungsprozessen kam es
vor allem in der Nähe von städtischen Märkten, wo es
seit längerem profitorientierte Bauernhaushalte gab. Viele
wollten hier auch nur ihre Verbindung zur Dorfgemeinde
beenden, um sich ihren Verpflichtungen zu entledigen
und dauerhaft in die Stadt überzusiedeln. In den traditio-
nellen Agrargebieten, in denen die Landarmut und damit
die Unzufriedenheit am größten waren, wagten aber nur
wenige Bauern den Schritt aus der Dorfgemeinde, weil
diese ihnen angesichts ihrer prekären Verhältnisse weiter-
hin gewisse soziale Sicherheiten zu gewährleisten schien.
Auch wenn die Stolypinsche Agrarreform darum man-
cherorts neue Impulse setzte, führte sie dennoch nicht zu
einer grundlegenden Transformation der ländlichen Ver-
hältnisse.
Seinen Reformhebel hatte Stolypin an der Dorfge-
meinde angesetzt, um den bäuerlichen Landhunger zu stil-
len, ohne dass der Adel dafür bezahlte. In diese Richtung
zielte auch ein erneutes Umsiedlungsprogramm. Dank
staatlicher Hilfen ergriffen zwischen 1907 und 1914 noch
einmal 2,8 Mio. Bauern die Chance, im asiatischen Lan-
desteil einen Neuanfang zu wagen. Auf diese Weise soll-
ten der soziale Unmut und die bäuerlichen Energien in
die Erschließung der Peripherien des Zarenreichs umge-
lenkt werden. Die von vielen Dorfbewohnern sehnsüch-
tig erwartete allgemeine Agrarreform, die Adelsland in
Bauernland umwandeln sollte, ging die Regierung jedoch
nicht an. Die soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit im
Landbesitz blieb zum Unmut der Bauern weiter bestehen.
Die explosive Agrarfrage ließ sich so nicht entschärfen.
55
55 Figes (wie Anm. 1), S. 252-262; Richard Pipes: Die Russische Revolution.
Bd. 1: Der Zerfall des Zarenreiches, Berlin 1992, S. 301-311; Judith Pallot:
Land Reform in Russia, 1906–1917. Peasant Pesponses to Stolypin‘s Pro-
ject of Rural Transformation, Oxford 1999.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932
Petr Arkadevich Stolypin (1863-1911), Aufnahme aus dem Jahr 1906
Foto: ullstein bild/Granger NYC