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Einsichten und Perspektiven 3 | 17
An der konservativen Modernisierung Stolypins scheiden
sich die historischen Geister. Trotz der Widersprüche sei-
ner Politik würdigen ihn einige Forscher und Publizisten
sogar als potenziellen „russischen Bismarck“.
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Unbestrit-
ten ist jedenfalls, dass es seit der Ermordung Stolypins im
Jahr 1911 der russischen Regierung an Ideen und amWil-
len fehlte, weitere Veränderungen anzugehen. Stattdessen
feierte der Zarenhof 1912 mit großem Pomp den 100.
Jahrestag des Siegs über Napoleon. Als sich im darauffol-
genden Jahre zum 300. Mal der Beginn der Herrschaft
der Romanovs jährte, beging Nikolaj II. dieses dynastische
Jubiläum mit ausgedehnten Feierlichkeiten. Die überall
inszenierten Begegnungen mit der einfachen Bevölke-
rung bestärkten ihn in dem Irrglauben, die Revolution
56 Zu dieser kontroversen Bewertung vgl. Schmidt (wie Anm. 53), S. 107-109 ff.
von 1905 hätte die Verbundenheit zwischen Zar und Volk
nicht zerrissen. Das verstellte ihm einen schonungslosen
Blick auf die vielen ungelösten Probleme.
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So brach 1912 erneut eine Welle von Streiks und Unru-
hen über Russland herein. Großes Aufsehen und Empörung
erregte vor allem das Massaker an den streikenden Arbeitern
auf den Goldfeldern am ostsibirischen Fluss Lena. Im Früh-
ling und Frühsommer 1914 erschütterten sodann Arbeits-
niederlegungen das wirtschaftliche und soziale Leben in
Petersburg, Moskau und anderen Großstädten. Wieder war
es die Mischung von sozialen Missständen und politischen
Anliegen, die Hunderttausende auf die Straßen trieben, um
57 Figes (wie Anm. 1), S. 23-44; Felix Ph. Ingold: Der große Bruch. Russ-
land im Epochenjahr 1913, München 2000, S. 45-50; Richard Wortman:
Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Bd. 2: From
Alexander II. to the Abdiction of Nicholas II., Princeton 2000, S. 439-480.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932
Staatsakt zum hundertjährigen Gedenken an den Sieg über Napoleon, Moskau 1912. Im Bild: Zar Nikolaj II. mit Offizieren vor der Christ-Erlöser-Kathedrale
Foto: ullstein bild/Heritage Images/Fine Art Images [Fotoarchiv Krasnogorsk, Fotograf: K. von Hahn]