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Einsichten und Perspektiven 3 | 17
unwiederbringlichen
Schaden. Die Solidarisie-
rung mit den Petersburger
Arbeitern führte zur Radi-
kalisierung und Mobili-
sierung der Bevölkerung.
Mit dem Blutsonntag
brachen die Dämme; der
angestaute Unmut schlug
jetzt in eine revolutionäre
Protestwelle um, die sich
über das gesamte Reich
ergoss. Die politische
Situation entglitt; das
Imperium verlor Ord-
nung und Halt.
Auf dem Land gab
es massive Bauernunru-
hen; zahlreiche Adelsgü-
ter gingen in Flammen
auf.
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In den Industrie-
zentren legten General-
streiks die Produktion
wochenlang lahm.
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Den
protestierenden Fabrikarbeitern schlossen sich bald andere
Beschäftigte an; wiederholt stellten die Eisenbahnen, die
Post und die Telegrafenämter ihren Betrieb ein. Das öffent-
liche Leben kam zum Erliegen. Unter dem Eindruck dieser
revolutionären Ereignisse legten die beiden Fraktionen der
Menschewiki und der Bolschewiki, die anfänglich nur eine
Nebenrolle gespielt hatten, vorübergehend ihre parteiinter-
nen Konflikte bei, um nun gemeinsam die Organisations-
macht der russischen Sozialdemokratie zu demonstrieren.
Ausgehend von der knapp 250 Kilometer von Moskau ent-
fernten Textilstadt Ivanovo – dem „russischen Manchester“
– bildeten die aufständischen Arbeiter erstmals sogenannte
15 Zu den Bauernunruhen vgl. die anschaulichen Regionalstudien von
Franziska Schedewie: Sozialer Protest im landwirtschaftlichen Zentrum
Russlands. Die Bauernaufstände im Kreis Ostrogožsk, 1905-1907, in:
Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der
Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wies-
baden 2006, S. 453-495; Burton Richard Miller: Rural Unrest during the
first Russian Revolution, Kursk Province, 1905-1906, Budapest 2013. Zu
den Bauernunruhen in der Ukraine Felix Schnell: Räume des Schreckens.
Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905-1933, Hamburg
2012, S. 60-71. Allgemein auch Jan Kusber: Die Bauern und das Jahr 1905.
Befunde und Interpretationen, in: ders./Andreas Frings (Hg.): Das Zaren-
reich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen, Münster 2007, S. 83-104.
16 Zum massiven Anstieg der Streiks und Unruhen vgl. die Statistik bei Hans-
Heinrich Nolte u.a. (Hg.): Quellen zur Geschichte Russlands, Stuttgart
2014, S. 255.
Arbeiterräte. Sie sollten als Organe der Selbstverwaltung in
der revolutionären Situation dafür sorgen, die Kontrolle
über das öffentliche Leben zu erhalten.
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Die Streiks lösten auch eine Welle von Verbrechen aus
und gingen mit zahlreichen Terroranschlägen einher. In der
am Kaspischen Meer gelegenen Ölmetropole Baku ereig-
neten sich brutale Massenausschreitungen zwischen den
christlichen Armeniern und den muslimischen Azerbajd-
schanern.
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Außerdem kam es zu den bis dahin schlimmsten
Pogromen, weil die berüchtigten Schwarzen Hundertschaf-
ten vielerorts antisemitische Schlägertrupps zusammen-
gestellt hatten, um die unzufriedenen und gewaltbereiten
Menschen zu grausamen Übergriffen gegen die jüdische
Bevölkerung anzustacheln.
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17 Figes (wie Anm. 1), S.194-197 u. 205 f.; Manfred Hildermeier: Geschich-
te Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013,
S.1016 f.
18 Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München
2003, S. 77-83.
19 Schnell (wie Anm. 15), S. 71-110; Figes (wie Anm. 1), S. 203 ff.; Shlomo
Lanbroza: The Pogroms of 1903-1906, in: ders./John Klier (Hg.): Pogroms.
Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S.
195-247; Don C. Rawson, Russian Rightists and the Revolution of 1905,
Cambridge 1995, S. 127-141; Stefan Wiese: Pogrome im Zarenreich. Dy-
namiken kollektiver Gewalt, Hamburg 2016, S. 115-240 (Wiese weist da-
raufhin, dass es auch Formen jüdischer Selbstwehr gab).
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932
Denkmal in Ivanovo zur Erinnerung an die Revolution
Foto: ullsteinbild/Sputnik