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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

selbstverschuldeten Unmündigkeit“ als auch Jean-Jacques

Rousseaus Postulat von der „Volkssouveränität“ zum politi-

schen Ausdruck. Getragen vom festen Glauben an Vernunft

und Wissenschaft sowie einer starken Leidenschaft für die

Rebellion gegen die bestehenden Sozialhierarchien, zielten

schon die sozialistischen Vordenker mit einem quasireli­

giösen Bestreben darauf, die Menschheit umzuerziehen.

Ihr Groll auf die ungerechte Ordnung ihrer Zeit war oft

verbunden mit Militanz und Opferbereitschaft. Als Sirenen

des Fortschritts lockten die Sozialisten und Kommunisten

bald mit vielversprechenden Gesängen von Gleichberechti-

gung und Selbstbestimmung, Wohlstand und Solidarität.

Sozial- und wirtschaftsgeschichtlich gesehen, erblickte

der Sozialismus im „Zeitalter der Revolution“ 

22

das Licht

der Welt, und zwar als Reaktion auf die kapitalistische

Industrialisierung. In deren Verlauf entstand infolge des

unaufhörlichen Aufstiegs der neuen Fabrikproduktion mit

der Arbeiterschaft eine neue soziale Großgruppe, deren

Befreiung sich die Sozialisten und Kommunisten mit

Großbuchstaben auf ihre roten Fahnen schrieben. Nach-

dem in den 1820er und 1830er Jahren der Begriff Sozia-

lismus Einzug in die politische Lexik gefunden hatte, ent-

wickelte sich das von Karl Marx und Friedrich Engels um

die Jahreswende von 1847/48 im Auftrag des deutschen

Bundes der Kommunisten verfasste „Kommunistische

Manifest“ als die Eloge an Klassenkampf und Revolution

zu einer Art Gründungsdokument, das dem politischen

Denken und Handeln seiner Anhänger fortan die Rich-

tung wies. Formulierungen wie „Ein Gespenst geht um in

Europa – das Gespenst des Kommunismus“ und der Auf-

ruf „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ waren bald in

aller Munde und fanden auch ihren Weg nach Russland.

23

Der Sozialismus versprach nicht nur Freiheit und

Emanzipation. Als Fortschrittsideologie bezog er zugleich

Attraktivität aus der Verheißung, dass alle Gesellschaf-

ten bald zu Industrieländern würden. Der Revolutionär

Nikolaj V. Valentinov, ein enger Freund Lenins, schrieb,

dass er und seine Gesinnungsgenossen sich vor allem

vom „gesellschaftlichen und ökonomischen Optimismus“

sowie vom „europäischen Charakter“ der Marx’schen

Lehre angesprochen fühlten. Sie roch „nicht nach heimi-

schem Muff und Provinzialismus, sondern war neu, frisch

22 Eric Hobsbawm: The Age of Revolution, 1789–1848, London 1962.

23 Zur Entstehungsgeschichte des Sozialismus vgl. David Priestland: Weltge-

schichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute,

München 2009, S. 9–74; Paresh Chattopadhyay: Karl Marx and Friedrich

Engels on Communism, in: Stephen A. Smith (Hg.): The Oxford Handbook of

the History of Communism, Oxford 2014, S. 37–54; Axel Honneth: Die Idee

des Sozialismus. Versuch einer Reaktualisierung, Berlin 2015, S. 23–84.

und verlockend“. Die infrastrukturelle und technologi-

sche Modernisierung von Wirtschaft und Staat setze – so

Valentinovs Erwartung – durch die „Demoralisierung und

Zersetzung der alten Gesellschaft neue Kräfte frei, die das

autokratische Regime mit seinen Abscheulichkeiten hin-

wegfegen würden.“ Mit seinem starken technischen Eros

und seiner mitreißenden Zuversicht, aufregende Zeiten

stünden bevor, enthielt der Marxismus für seine russischen

Anhänger das Versprechen, „dass wir kein halbasiatisches

Land bleiben, sondern Teil des Westens mit seiner Kultur,

seinen Institutionen und Eigenschaften werden würden.

Der Westen war unser Leuchtfeuer.“ 

24

Valentinovs Erinnerungen zeigten, dass der Sozialis-

mus in den führenden westlichen Industriegesellschaften

auf die Verwerfungen der Moderne, im stärker agrarisch

geprägten Russland aber vor allem auf die „Herausfor-

derungen des Mangels an Moderne – in der Sprache der

Zeit: auf Rückständigkeit“ reagierte.

25

Das unterstrich Leo

Trotzki nachdrücklich, indem er die „verspätete Entwick-

lung“ und das „Zurückbleiben“ zum wesentlichen „Cha-

rakterzug“ der russischen Geschichte erklärte und in der

Überwindung dieses drückenden Erbes eines der zentra-

len Anliegen der Oktoberrevolution sah.

26

Die „Großen Reformen“ und der Aufbruch ins

Zeitalter der Industriemoderne

In Russland hatten die Eliten während des 19. Jahrhun-

derts immer wieder heftig darum gefochten, ob das Zaren-

reich dem industriellen Weg der westeuropäischen Länder

folgen solle. Die schmachvolle Niederlage im Krimkrieg

(1853–1856) gegen die technisch weit besser ausgerüste-

ten britischen und französischen Militärverbände deckte

dann schonungslos die russische Unterlegenheit auf.

27

Als

Alexander II. gegen Kriegsende den Zarenthron über-

nahm, erkannten er und seine Berater, dass die umfas-

sende Erneuerung der Grundlagen von Staat und Wirt-

schaft längst zum kategorischen Imperativ geworden

war, um im kompetitiven Umfeld der um Einfluss mit-

einander ringenden europäischen Imperien den bedroh-

ten Status als Großmacht aufrecht erhalten zu können.

24 Nikolaj V. Valentinov: Encounters with Lenin, Oxford 1968, S. 23.

25 Dietrich Beyrau: Oktoberrevolution. „Flammenschrift auf Europas östli-

cher Wand“, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 2017,

S. 31–52, hier S. 48.

26 Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, Frankfurt/am Main 1982,

S. 13ff.

27 Winfried Baumgart: The Crimean War, London 1999; Orlando Figes: Krim-

krieg, Berlin 2014.