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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

flachen Determinismus zum Wahrheitsbeweis für angeb-

liche historische Gesetzmäßigkeiten verklärt worden.

15

Andere haben Lenin und die Bolschewiki dämonisiert

sowie wilde Skandalgeschichten und Verschwörungsthe-

orien verbreitet, die einzelne Sachverhalte über Gebühr

aufblasen und dabei die komplexen Zusammenhänge

verkennen. Das hat gleichfalls dazu beigetragen, dass

sich um die Geschehnisse des Jahres 1917 ein dichtes

Gestrüpp aus Halbwahrheiten, unhaltbaren Spekulatio-

nen und blanken Lügen rankt. Nach der Öffnung der

russischen Archive während der 1990er Jahre konnte

die internationale Forschung wichtige Dokumente neu

sichten, um Vorannahmen, Meinungen und Befunde

zu überprüfen. Der Erkenntnisgewinn war beträchtlich,

auch dank neuer kultur- und globalhistorischer Zugän-

ge.

16

Die Bilanzierung dieser faszinierenden Forschungs-

15 Dietrich Beyrau: Die Russische Revolution im Meinungsstreit. Sozialwis-

senschaftliche und geistesgeschichtliche Deutungen, in: Neue Politische

Literatur 30 (1985), S. 51–71; Frederick C. Corney: Telling October. Memo-

ry and the Making of the Bolshevik Revolution, Ithaca 2004.

16 Die Flut an Jahrestag-Literatur ist gegenwärtig erstaunlich. Gute Zu-

sammenfassungen des internationalen Forschungsstands bieten Mark D.

Steinberg: The Russian Revolution, 1905–1921, Oxford 2017; Stephen A.

Smith: Russia in Revolution. An Empire in Crisis, 1890 to 1928, Oxford

2017; Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sow­

jetimperium, München 2017; Dietrich Beyrau: Krieg und Revolution. Rus-

sische Erfahrungen, Paderborn 2017.

fülle eröffnet mit dem Abstand von 100 Jahren heute die

Möglichkeit, nähere Schlüsse darüber zu gewinnen, wel-

che Ursachen und Folgen die erstmalige Staatswerdung

des Sozialismus dank der Oktoberrevolution eigentlich

hatte. Kürzlich schrieb Jörg Baberowski dazu: „Alle Ver-

suche, Gesellschaften politisch und sozial zu ordnen,

waren im 20. Jahrhundert auf die eine oder andere Weise

eine Antwort auf die Herausforderung der Russischen

Revolution. So gesehen, war das 20. Jahrhundert kein

amerikanisches und auch kein deutsches, kein liberales

oder konservatives, sondern ein sowjetisches Jahrhun-

dert.“ 

17

Dieses Statement betont die welthistorische Bedeutung

der Oktoberrevolution, überzieht dabei allerdings.

18

Viele

Prozesse und Phänomene, die das 20. Jahrhundert präg-

ten, hatten ihre Ursprünge in den Entwicklungen und

17 Jörg Baberowski: Die neue Diktatur. Die Russische Revolution und das

Ende des Alten Europa, in: Helmut Altrichter u.a.: 1917 – revolutionäres

Russland, Darmstadt 2016, S. 115–127, hier S. 127.

18 In seiner vielbeachteten Gesamtdarstellung zum 20. Jahrhundert konsta-

tierte schon Eric Hobsbawm, dass die Oktoberrevolution für das Jahrhun-

dert ein ebenso zentrales Ereignis darstelle, „wie es die französische Revo-

lution von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war. Es ist in der Tat kein

Zufall, dass die Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts […] genau mit der

Lebensdauer des Staates zusammenfällt, den die Oktoberrevolution gebo-

ren hatte.“ So Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte

des 20. Jahrhunderts, München 1997, S. 114.

Die glorifizierte Darstellung der Marianne als Symbol des Aufbruchs

Abbildung: ullstein bild/Granger, NYC

Robespierre köpft, nachdem ganz Frankreich guillo-

tiniert wurde, auch noch den Henker; zeitgenössische

Karikatur

Abbildung: ullstein bild/Roger Viollet