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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Revolution als Inbegriff für beschleunigten und radikalen Wandel steht für das

Prinzip, dass der gewohnte Gang der Geschichte – wenn es ihn denn gibt – schlag-

artig eine andere Richtung nehmen kann, wenn sich große Menschenmassen unter

dem Einfluss von Ereignissen, Ideen und charismatischen Führungspersönlichkeiten

mitreißen und politisieren lassen. Mit ihrer radikalen Dynamik veranschaulichen

Revolutionen die Unbeständigkeit, Anfälligkeit und Wandelbarkeit der Welt. Selbst

wenn sie scheitern, schaffen sie Unwiderrufliches. Mit ihren Parolen und Visionen

bleiben sie darum stets umstrittene Erinnerungsorte. So deuten die einen seit Ende

des 18. Jahrhunderts Revolution als Verheißung und sehnen sie als emanzipatorischen

Rettungs- oder Befreiungsakt herbei. Ganz in diesem Sinne bezeichnete Karl Marx 1851

die Revolution sogar als „Lokomotive der Geschichte“ und folglich als Antriebsmotor

des gesellschaftlichen Fortschritts. Anderen skeptischen Geistern hingegen erscheint

die Revolution wegen ihrer hoch emotionalisierten Gemeinschaftsmomente der

Wut, der Maßlosigkeit und des unkontrollierten Volkszorns vielmehr als Bedrohung

und kostspieliges, opferreiches Ereignis von hoher Intensität und Dramatik. Mit dem

Ausbruch der Revolution – so die bittere Lehre der Geschichte – werde oftmals die

Büchse der Pandora geöffnet und Länder infolge der Machtergreifung der Radikalen

und ihrer terroristischen Schreckensherrschaft in Chaos und Gewalt gestürzt.

1

Revolution als geschichtspolitische Herausforderung

Der 100. Jahrestag der revolutionären Ereignisse von 1917

stellt darum eine geschichtspolitische Herausforderung

dar; das gilt in aller Nachdrücklichkeit für Russland – das

Mutterland der sozialistischen Revolution. Während Mos-

kau im 20. Jahrhundert als aktiver Revolutionsexporteur

in Erscheinung getreten war, hat der Kreml mit Beginn

des 21. Jahrhunderts ein striktes Revolutionsembargo ver-

hängt und bemüht sich auf vielerlei Weise, den globalen

Fluss kritischen Denkens und die Ausbreitung sozialer

Proteste zu unterbinden. Die Erinnerung an 1917 soll in

der russischen Gesellschaft bloß nicht Lust auf den Wan-

del der bestehenden Ordnung machen. Dementsprechend

erklären führende Vertreter des Moskauer Machtestab-

lishments, man müsse die Revolution für immer aus der

1 Vgl. Andreas Fahrmeir: Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850,

München 2010; Florian Grosser: Theorien der Revolution, Hamburg 2013;

Jack A. Goldstone: Revolutions. A very Short Introduction, Oxford 2014;

Gero von Randow: Wenn das Volk sich erhebt. Schönheit und Schrecken

der Revolution, Köln 2017.

politischen Praxis verbannen und auf den Müllhaufen der

Geschichte entsorgen. In Russland sei mit 1917 das Limit

für die Revolution längst erschöpft.

2

Das Ende der Revolution war zuvor auch andernorts

ausgerufen worden. Nachdem sich die Ära des Kalten

Krieges noch einmal als ein letztes Revolutionszeitalter

erwiesen hatte,

3

prägte Timothy Garton Ash, ein klu-

ger Beobachter der Zeitenwende in Osteuropa, den

Begriff von der „Refolution“, also einer Mischform von

2 Ekaterina Makhotina: Verordnete Versöhnung. Geschichtspolitische und

gesellschaftliche Perspektiven auf die Russische Revolution, in: Jahrbü-

cher für Geschichte Osteuropas 65 (2017), S. 295–305; Boris Kolonickij:

Unvorhersehbare Vergangenheit. Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur

im heutigen Russland, in: Deutsches Historisches Museum/Schweizeri-

sches Nationalmuseum (Hg.): 1917 – Revolution. Russland und die Folgen,

Dresden 2017, S. 157–171; Jan Plamper: Erinnerung und Verdrängung der

Revolution in Russland – zwischen Märtyrologie, Konspirologie und star-

kem Staat, in: Jan Claas Behrends/Nikolaus Katzer/Thomas Lindenberger

(Hg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revo-

lution, Berlin 2017, S. 279–294.

3 Jeff Goodwin: No Other Way Out. States and Revolutionary Movements,

1945–1991, Cambridge 2001; John Foran: Taking Power. On the Origin of

Third World Revolutions, Cambridge 2005.