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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
Reform und Revolution, um die friedliche Umwälzung
von 1989 als etwas Neues zu bezeichnen.
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Im Jahr 2000
nach dem Sturz von Slobodan Milošević, dem damaligen
Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, bezeich-
nete Ash diesen Aufstand in Serbien vollmundig sogar
als
„the last revolution“.
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Zeitgleich erklärten Revoluti-
onstheoretiker, dass sich infolge der weltweit „dritten
Demokratisierungswelle“
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seit den 1970er Jahren die
Wahlurne als der „Sarg“ für Revolutionäre erweise.
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Kurzum: Nachdem der konservative amerikanische Poli-
tikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 mit dem Sie-
geszug von Demokratie und Kapitalismus das „Ende der
Geschichte“ heraufziehen sah, meinten viele, auch von
der Revolution Abschied nehmen zu können.
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Aber aus den Arenen sowohl des Historischen als auch
des Politischen ist die Revolution zu Beginn des 21. Jahr-
hunderts noch längst nicht verschwunden. Als Folge
einer sprunghaften Temperaturerhöhung der Gesellschaft
und einer Radikalisierung politischer Erregungszustände
geht von dem Gedanken an die Möglichkeit staatlicher
Umstürze weiter ungebrochene Faszination und zugleich
Schrecken aus. Das große revolutionäre Gefühlstheater
mit hochschießenden Erwartungen und tiefen Frustrati-
onen boten nach 2003 zunächst die sogenannten Farb
revolutionen in Georgien, der Ukraine, in Kirgisien und
im Libanon, zuletzt dann der Arabische Frühling von
2012 (bevor er vielerorts in einen „islamistischen Winter“
umschlug) sowie der ukrainische Euromajdan aus den
Jahren 2013/14. Gleichsam mit den transnationalen Pro-
testbewegungen
Occupy
und
Attac
halten Kapitalismus-
4 Timothy Garton Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt, München 1990.
Ähnlich Richard Sakwa: The Age of Paradox. The Anti-Revolutionary Re-
volutions of 1989–1991, in: Mora Donald/Tim Rees (Hg.): Reinterpreting
Revolution in Twentieth-Century Europa, New York 2001, S. 159–176.
5 Timothy Garton Ash: The last Revolution, in: New York Review of Books,
16. November 2000, S. 8–14.
6 Samuel P. Huntington: The Third Wave. Democratization in the Late Twen-
tieth Century, London 1991.
7 Jeff Goodwin: The Renewal of Socialism and the Decline of the Revolu-
tion, in: John Foran (Hg.): The Future of Revolution. Rethinking Radical
Change in the Age of Globalization, London/New York 2003, S. 59–72,
hier S. 67.
8 Zur kontroversen Diskussion über das angebliche Ende der Revolution vgl.
Foran (Hg.): The Future of Revolution; Nikki R. Keddie (Hg.): Debating Re-
volution, New York 1995; Noel Parker: Revolutions and History. An Essay
in Interpretation, Cambridge 1999; Mark N. Katz: Reflections on Revolu-
tion, New York 1999; ders. (Hg.): Revolution. International Dimensions,
Washington, D.C. 2001; Agata Stopińska/Anke Bartels/Raj Kollmorgen
(Hg.): Revolution. Reframed – Revisited – Revised, Frankfurt/am Main 2007;
John Foran/David Lane/Andreja Zivkovic (Hg.): Revolution in the Making
of the Modern World, London/New York 2008; Paul Mason: Why It’s Kick-
ing off Everywhere. The New Global Revolutions, London 2012.
und Globalisierungsgegner wie Bernie Sanders, Stéphane
Hessel,
Slavoj Žižek, Alain Badiou oder die Pussy-Riot-
Aktivistin Nadja Tolokonnikowa unbeirrt die Fahne der
Revolution als eine Möglichkeit des Politischen hoch.
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Selbst der neu gewählte französische Präsident Emmanuel
Macron zelebriert sein politisches Programm pathetisch
als die Fortführung der großen französischen Revolutions
tradition.
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Angesichts der fortdauernden „Präsenz der Revolu-
tion“
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bietet der 100. Jahrestag von 1917 darum einen
guten Anlass, um eingehend über die Revolution als einen
besonderen Modus des beschleunigten sozialen Wandels
nachzudenken. Angesichts der „friedlichen Revolutio-
nen“ von 1989 in Osteuropa und den revolutionären
Ereignissen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die oft in
Anlehnung an Medienupdates als „Revolution 2.0“ oder
„Revolution 3.0“ bezeichnet werden,
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lässt sich vor dem
historischen Hintergrund von 1917 herausarbeiten, was
für die wiederholt eingeforderte „neue Soziologie der
Revolutionen“
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und damit
„the fourth generation of revo
lutionary theory“
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von besonderer Bedeutung ist. Was
haben die „Großen Revolutionen“ der Zeit von 1789 bis
1917 mit den gesellschaftlichen Aufständen und Umbrü-
chen der letzten Jahrzehnte gemeinsam? Wie erklärt sich
ungeachtet aller Abgründe, die sich in Zeiten von Aufruhr
und Umwälzungen immer wieder auftun, das fortgesetzte
Faszinosum Revolution?
Über Jahrzehnte hinweg ist die Oktoberrevolution
von sowjetischen und anderen sozialistischen Histori-
kern zum Mythos und in Form eines ideologiegeleiteten
9 Slavoj Žižek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin,
Frankfurt 2002; Stéphane Hessel: Empört Euch!, Berlin 2010; Alain Badiou:
The Rebirth of History. Times of Riots and Uprisings, New York 2012; Nadja
Tolokonnikowa: Anleitung für eine Revolution, Berlin 2016; Bernie Sanders:
Unsere Revolution: Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft, Berlin 2017.
10 Emanuel Macron: Revolution – Wir kämpfen für Frankreich, Kehl am
Rhein 2017.
11 So die Formulierung von Jörn Leonhard: Das Präsens der Revolution. Der
Bonapartismus in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahr-
hunderts, in: Werner Daum u.a. (Hg.): Kommunikation und Konfliktaus-
tragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher
Machtverhältnisse, Berlin 2010, S. 293–317.
12 Wael Ghonim: Revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die
Welt verändern, Berlin 2012; Simon Geissbühler (Hg.): Kiew – Revolution
3.0. Der Euromaidan 2013/14 und die Zukunftsperspektiven der Ukraine,
Stuttgart 2014.
13 Jeff Goodwin: Toward a New Sociology of Revolutions, in: Theory and Soci-
ety 43 (1994), S. 731-766; Zygmunt Bauman: A Revolution in the Theory of
Revolution?, in: International Political Science Review 15 (1994), S. 15–24.
14 Jack Goldstone: Toward A Fourth Generation of Revolutionary Theory, in:
Annual Review of Political Science 4 (2001) H. 1, S. 138–187.