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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
um endlich Anschluss zu finden an die Prozesse, die für
die Epoche des 19. Jahrhunderts in Europa längst kenn-
zeichnend waren. Daher lassen sich die Dimensionen und
Implikationen des nach Ende des Krimkriegs in Angriff
genommenen Reformwerks nur mit der Europäisierungs-
politik Peters des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts
vergleichen.
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Im Zarenreich begannen sich seit den 1860er Jahren
neue politische und gesellschaftliche Kräfte zu formieren.
Der von Alexander II. eingeleitete Wandel der politisch-
gesellschaftlichen Verfasstheit entriegelte Fortschritts-
bremsen und entfachte eine Entwicklungsdynamik, die
das Land auf seinem Weg ins Maschinenzeitalter unauf-
hörlich vorantrieb. Die Industrie-, Währungs- und Zoll-
politik, für die als Finanzminister vor allem der aus einer
baltendeutschen Ritterfamilie stammende Sergej Witte
(1849–1915) verantwortlich war, ließ Russland immer
attraktiver für ausländisches Kapital werden. Auf diesem
Zukunftsmarkt lockten hohe Gewinne.
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Dank dieser
Anleihen und verbesserter Steuereinnahmen standen bald
ausreichende Geldmittel zu Verfügung, um staatlicherseits
große Infrastrukturprojekte zu finanzieren und mächtige
Aktiengesellschaften ins Leben zu rufen. Der Transfer von
westlichem Kapital, Technologie und Expertise sowie die
zunehmende transnationale Verflechtung kompensierten
die oftmals fehlenden autochthonen Voraussetzungen.
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Das Zarenreich schickte sich an, eine konkurrenzfähige
Wirtschaft aufzubauen und sich in globale Warenkreis-
läufe einzubringen. Die damit vorangetriebene Expan-
sion moderner Industrie und Staatlichkeit stellte sich den
Zeitgenossen als ein aufsehenerregendes Schauspiel dar,
das allerorten neue Kartographien des Sozialen entstehen
31 So Dietrich Geyer: Die Russische Revolution, Göttingen
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1985, S. 14. Zu
den „Großen Reformen“ vgl. Werner E. Mosse: Perestroika under the Tsars,
London 1992; Ben Eklof (Hg.): Russia’s Great Reforms, 1855–1881, Bloo-
mington 1994; W. Bruce Lincoln: The Great Reforms. Autocracy, Bureau-
cracy, and the Politics of Change, DeKalb/Il. 1990; Manfred Hildermeier:
Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München
2013, S. 879–961.
32 Zum politischen Wirken von Witte vgl. Sidney Harcave: Count Sergei Witte
and the Twilight of Imperial Russia. A Biography, Armonk, NY 2004; Francis
W. Wcislo: Tales of Imperial Russia. The Life and Times of Sergei Witte,
1849–1915, Oxford 2011.
33 John P. McKay: Pioneers for Profit. Foreign Entrepreneurship and Russian
Industrialization 1885–1913, Chicago 1970; Dittmar Dahlmann/Carmen
Scheide (Hg.): „… das einzige Land in Europa, das eine große Zukunft vor
sich hat“. Deutsche Unternehmen und Unternehmer im Russischen Reich
im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Essen 1998; Dittmar Dahlmann u.a.
(Hg.): Eisenbahnen und Motoren – Zucker und Schokolade. Deutsche im
russischen Wirtschaftsleben vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Ber-
lin 2005; Jonathan A. Grant: Big Business in Russia. The Putilov Company
in Late Imperial Russia, 1868–1917, Pittsburgh 1999.
ließ. Im Baumwollgewerbe, dem Leitsektor der russischen
Industrialisierung, dominierte zunehmend die einheimi-
sche Fertigung, weil sich die Zahl der Spinn- und Web-
maschinen von 1879 bis 1913 mehr als verdreifacht hatte.
Die Kohleförderung hatte sich zwischen 1869 und 1913
von 300.000 auf 36 Mio. Tonnen erhöht, die Stahlpro-
duktion von 200.000 auf fast fünf Mio. Tonnen. In der
gleichen Zeit waren die Eisenbahnkilometer von anfäng-
lich kümmerlichen 1.626 auf schließlich über 70.000
Kilometer angestiegen.
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Vor allem mit dem 1891 verkündeten Bau der Trans-
sibirischen Eisenbahn, der mit 9.288 Kilometern längs-
ten Bahnstrecke der Welt, bewies das Zarenreich seine
Erschließungskraft und unterstrich damit seine kühnen
Ambitionen, nicht mehr als Koloss auf tönernen Füßen,
sondern als Gigant auf eisernen Rädern zu erscheinen.
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34 Zahlen bei Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Russlands, Bonn 2006,
S. 151 f. Ausführlich Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1129–1156; Heinrich
Scherer: Der Aufbruch aus der Mangelgesellschaft. Die Industrialisierung
Russlands unter dem Zarismus (1860–1914), Gießen 1985; Peter Gatrell:
The Tsarist Economy, 1850–1917, London 1986; Paul R. Gregory: Before
Command. An Economic History of Russia from Emancipation to the First-
Five-Year Plan, Princeton 1994.
35 Zur Transsibirischen Eisenbahn und zum Ausbau des russischen Eisen-
bahnnetzes vgl. ausführlich Steven Marks: Road to Power. The Trans-Siberian
Railway and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca 1991;
Walter Sperling: Der Aufbruch der Provinz. Die Eisenbahn und die Neu-
ordnung der Räume im Zarenreich, Frankfurt am Main/New York 2011;
Frithjof Benjamin Schenk: Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und
sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter, Stuttgart 2014.
Die Transsibirische Eisenbahn hat nicht nur die längste Eisenbahntrasse der
Welt, ihr Bau mitten durch die Wildnis Sibiriens stellte auch eine eindrucks-
volle Leistung im Bereich der Organisation und Logistik dar, mit der sich
Russland vor der Welt brüstete.
Foto: picture alliance/dpa