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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Ideologien des „langen 19. Jahrhunderts“.

19

Daher ist die

Oktoberrevolution ihrerseits als Reaktion auf den Aufstieg

der kapitalistischen Hochmoderne, auf den bürgerlichen

Liberalismus und westlichen Imperialismus zu verstehen.

Zudem: So bedeutsam die sozialistische Herausforderung

für die Politikgestaltung im 20. Jahrhundert auch gewesen

sein mag, wichtige politische Entscheidungen wurden in

den einzelnen Ländern nicht mit dem Blick auf Moskau,

sondern vor allem aus eigenen Notwendigkeiten, Einsich-

ten und Traditionen heraus getroffen. Der europäische

Faschismus beispielsweise etablierte sich als politische

Vernichtungskraft zwar dank seiner Abscheu gegenüber

dem Bolschewismus. Seine Genese lässt sich aber kaum

allein darauf zurückführen, weil so die innergesellschaft­

liche Anfälligkeit für den Faschismus heruntergespielt und

damit einer apologetischen Sicht das Wort geredet wird.

Im deutschen Fall waren der Nationalismus, das Streben

nach Weltherrschaft und der Antisemitismus weit wichti-

gere Faktoren als der Anti-Bolschewismus.

20

Zu bedenken ist ferner, dass 1917 nicht nur das Jahr

war, in dem nach dem Ende der Zarenherrschaft der Auf-

stieg des ersten sozialistischen Staats zum

„global player“

begann. Zeitgleich mit den revolutionären Ereignissen in

Russland trat die USA in den Ersten Weltkrieg ein und

wurden dank ihrer ökonomischen und militärischen

Macht zur Weltmacht.

21

Statt einseitig die weit verbreitete

Vorstellung vom

„American Century“

durch die These vom

„sowjetischen Jahrhundert“ in Frage zu stellen, scheint es

sinnvoller zu betonen, wie die USA und die Sowjetunion

mit ihrer 1917 beginnenden Systemkonfrontation sowie

mit ihren wechselseitigen transnationalen Bezug- und Ein-

flussnahmen den Ost-West-Konflikt und das Weltgesche-

19 Vgl. dazu vor allem Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt.

Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt am Main/New York 2006,

S. 564; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte

des 19. Jahrhunderts, München 2009.

20 Den „kausalen Nexus“ zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus

betonte vor allem Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945.

Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt am Main/Berlin 1987,

S. 534–549. Noltes umstrittene These, das stalinistische Lagersystem des

GULag habe „das logische und faktische Prius“ vor Auschwitz, so dass der

„Rassenmord“ der Nationalsozialisten aus Furcht vor dem älteren „Klas-

senmord“ der Bolschewiki entstanden sei, löste 1986 in der Bundesrepub-

lik den berühmten Historikerstreit aus. Innerhalb der Historikerzunft wird

Noltes Verständnis vom Nationalsozialismus als Abwehrideologie und

überschießende Antwort auf die Herausforderung der Oktoberrevolution

weithin zu Recht abgelehnt. Das schließt nicht aus, dass die vielfälti-

gen Verflechtungen und Resonanzen zwischen Bolschewismus und Fa-

schismus thematisiert werden. Vgl. Gerrit Dworok: „Historikerstreit“ und

Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen

Konflikts, Köln/Weimar/Wien 2015.

21 Adam Tooze: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015.

hen fortan nicht allein, aber doch maßgeblich bestimm-

ten. Nach der weltkriegsbedingten Anti-Hitler-Allianz

manifestierte sich die Konkurrenz von Kapitalismus und

Kommunismus in der Bipolarität des Kalten Kriegs und

schuf damit Spannungspotentiale, die – wie die letzten

Entwicklungen seit 2014 zeigen – auch heute noch nicht

restlos entschärft sind. Auch so gesehen zeigt sich, dass

die Oktoberrevolution keineswegs spurlos im Reich der

Vergangenheit versunken ist, sondern neben ihren erinne-

rungskulturellen auch ihre weltpolitischen Nachwirkun-

gen bis heute bedeutsam geblieben sind.

Der Ursprung und die Versprechen des Sozialismus

Ideengeschichtlich gesehen war der Sozialismus ein legiti-

mes Kind der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhun-

derts. Mit seiner Synthese von Freiheit, Modernität und

Gleichheit brachte er sowohl Immanuel Kants Diktum

von der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner

Das Gedenkplakat des sowjetischen Künstlers Adolf I. Strachov-Braslavskij

zelebriert Lenin als vorausschauenden Revolutionsführer.

Abbildung: picture alliance/CPA Media