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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
1914 erreichte die Alphabetisierungsrate in den baltischen
Ostseeprovinzen dank des dort gut ausgebildeten Volks-
schulsystems weit über 80 Prozent. Zur gleichen Zeit
konnte in den Großstädten des Zarenreichs schon mehr
als die Hälfte der Menschen lesen und schreiben. Damals
besuchte die Mehrheit aller Kinder im Russischen Kaiser
reich eine Schule. Die beschleunigte Verringerung des
Analphabetismus schlug sich im wachsenden Geschäfts-
erfolg der Massenpresse wieder, deren Boulevardblätter in
den Großstädten ein immer größeres Lesepublikum fand.
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Regierbarkeitsprobleme: Repression und
autokratischer Starrsinn
In Bezug auf das niedrige Ausgangsniveau waren die
Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung und Pro-
fessionalisierung nach den „Großen Reformen“ beein-
druckend. Russland glänzte mit seinem stürmischen
Vorwärtsdrang und seinem beschleunigten Wirtschafts-
wachstum, das ungeachtet aller kurzfristigen konjunk-
turellen Abschwünge schon eine gewisse Nachhaltigkeit
zeigte. Die „Großen Reformen“ hatten die russische Indus-
trie wieder in den Modernisierungsfluss der Zeit manöv-
riert und versucht, sie für den globalen Wettbewerb fit zu
machen. Auch wenn sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts
der Abstand zu verkürzen schien, so lag das Zarenreich im
internationalen Vergleich von Industrie und Sozialstruk-
tur dennoch weiter zurück. Das Russische Kaiserreich war
einerseits kein rückständiges Agrarland mehr, andererseits
aber immer noch ein gutes Stück von einer entwickelten
Industriegesellschaft entfernt. Vielerorts bestand fortge-
setzter Nachholbedarf. Die große Mehrheit der Bevöl-
kerung lebte weiterhin auf dem Land; hier kamen viele
Menschen nur sporadisch mit den sich ausweitenden
urban-industriellen Inseln der modernen Welt in Kon-
takt. Diese transformative Dazwischen-Situation warf
ernste Regierbarkeitsprobleme auf. Die mit den „Großen
Reformen“ von oben in Gang gebrachten Prozesse unter-
strichen zwar die Anpassungsfähigkeit Russlands an die
Herausforderungen der Zeit. Angesichts der damit frei-
gesetzten gesellschaftlichen Entwicklungs- und Konflikt-
dynamiken sah sich die Petersburger Regierung aber vor
die große politische Aufgabe gestellt, wie sich der einge-
leitete Strom der Erneuerung kontrollieren ließ, damit er
42 Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1243–1260; Ben Eklof: Russian Peasant
Schools. Officialdom, Village Culture, and Popular Pedagogy, 1861–1914,
Berkeley 1986; Jeffrey Brooks: When Russia learned to read. Literacy and
Popular Literature, 1861–1917, Princeton 1988; Louise McReynolds: The
News under Russia’s Old Regime. The Development of a Mass-Circulation
Press, Princeton 2014.
nicht über die Ufer trat und alles Bestehende mit sich riss.
Vertreter der alten Eliten fürchteten, mit den Veränderun-
gen nicht Schritt halten zu können und damit ihre soziale
Vorrangstellung zu verlieren. Sie vertrauten darauf, dass
der Zar seine autokratische Allmacht einsetzen würde, um
ihre Interessen zu wahren.
So mutig der Reformzar Alexander II. bei den Neue-
rungen nach 1861 auch vorgegangen war, er hatte es nicht
gewagt, die zarische Selbstherrschaft anzutasten und seine
alleinige Regierungs- und Entscheidungsmacht durch eine
Verfassung sowie die Einberufung eines Parlaments zu
begrenzen. Die Autokratie als Motor des Fortschritts, der
trägen Gesellschaft stets voraus – so sah Alexander II. die
Welt und seine Mission. Deshalb bestand er darauf, als
unumschränkter Herrscher ganz nach eigenem Ermessen
zu regieren. Während damals überall demokratische Ver-
fassungsstaaten entstanden und sich die alten Dynastien
zu konstitutionellen Monarchien bekannten, blieb Russ-
land eines der letzten europäischen Länder, die sich diesem
Wandel der politischen Ordnung hartnäckig verschlossen.
Als Alexander II. 1881 bei einem von der linken Terror-
gruppe
Narodnaja Volja
ausgeübten Attentat starb, setzte
sein Nachfolger Alexander III. statt auf weitere Reformen
nun auf Repressionen und Restriktionen. Weil einer der
am Anschlag beteiligten Revolutionäre jüdischer Herkunft
war, brach sich der Antisemitismus 1881 in ersten brutalen
Judenpogromen Bahn und erschütterte das interethnische
Miteinander besonders in den westlichen Reichgebieten.
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In der Folgezeit stärkte Alexander III. den zarischen Obrig-
keitsstaat und baute dessen geheimdienstlichen Unterdrü-
ckungsapparat massiv aus. Die Balance zwischen Erneu-
erung und Herrschaftssicherung, zwischen Abbau und
Neubau geriet dadurch völlig aus dem Lot. Russland ver-
passte erneut die Chance, die Monarchie in Richtung eines
Verfassungsmodells und Rechtsstaats zu verändern.
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43 Ende des 19. Jahrhunderts lebten etwa zwei Drittel aller Juden im Rus-
sischen Kaiserreich. Ihr Wohn- und Arbeitsrecht war auf das Gebiet im
europäischen Westen des Zarenreichs beschränkt, auf das „Ansiedlungs-
rayon“. Hier stellten Juden in einigen Städten wie Vilnius, Warschau,
Lemberg und Kiew knapp ein Drittel der Einwohner und entwickelten ein
aktives Kulturleben. Die Mehrheit der russischen Juden lebte allerdings
im „Schtetl“. Damit gemeint sind meist recht ärmliche Kleinstädte. Ben-
jamin Nathans: Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial
Russia, Berkeley 2002. Zu den Pogromen nach 1881 vgl. Stefan Wiese:
Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt, Hamburg 2016.
44 Heinz-Dietrich Löwe: Alexander III. 1881–1894, in: Torke (wie Anm. 28),
S. 339–353; Stadelmann (wie Anm. 28), S. 201–212; Fredric S. Zucker-
man: The Tsarist Secret Police in Russian Society, 1880–1917, New York
1996; Jonathan W. Daly: Autocracy under Siege. Security Police and Op-
position in Russia, 1866–1905, DeKalb 1998; Charles A. Ruud/Sergei A.
Stepanov: Fontanka 16. The Tsars’ Secret Police, Montreal 1999.