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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Symbol für Russland gesehen werden. Im Hintergrund ist

ein Dampfschiff zu sehen, das als Symbol des industriel-

len Fortschritts die baldige Befreiung von schwerer kör-

perlicher Arbeit symbolisiert. Durch die vorbeiziehenden

Wolken, die immer wieder aufreißen, um den Blick auf

den blauen Himmel freizugeben, und durch die am rech-

ten Bildrand heraufziehende Gewitterfront wird zusätzli-

che Dynamik erzeugt. Der himmlische Hintergrund ver-

deutlicht sowohl Aufbruch als auch Aufruhr; er kündigt

Verheißungsvolles genauso wie Unheilvolles an, das sich

beides aus der Not der Treidler ergibt.

53

Eindrucksvoll demonstriert Repins Bild das Interesse der

Elite amLeid der Bauern und das Bemühen um einen gesell-

schaftlichen Brückenschlag zwischen Intelligenz und Volk.

Zugleich ist zu beobachten, dass sich die Bauern durchaus

partiell auf die Welt der aufsteigenden Moderne, deren Ins-

titutionen, Praktiken und Vertreter einließen.

54

Aufs Ganze

gesehen kam die Integration der Bauern in die Gesellschaft

dennoch nur wenig voran. Wie Missverständnisse und

Ignoranz weiterhin das soziale Miteinander prägten, zeigte

besonders anschaulich die Geschichte der

Narodniki,

die in

53 Angelika Wesenberg (Hg.): Ilja Repin. Auf der Suche nach Russland, Berlin

2003; David Jackson: The Russian Vision. The Art of Ilya Repin, Wood-

bridge 2006; Grigori Sternin/Elena Kirillina: Ilya Repin, New York 2011.

54 Das machen besonders die Beispiele der ländlichen Rechtsfragen und

der bäuerlichen Autobiographik gut deutlich. Vgl. Jane Burbank: Russian

Peasants go to Court. Legal Culture in the Countryside, 1905–1917, Bloo-

mington 2004; Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik

zwischen Kaiserreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013.

der Forschung auch als „Populisten“ oder „Volkstümler“

bezeichnet werden. Dabei handelte es sich um linke Stu-

dierende und junge Intellektuelle, die voller Enthusiasmus

zwischen 1874 und 1881 „ins Volk“ gingen, also dauerhaft

auf das Land zogen, um den Bauern moderne Kultur zu

vermitteln und sie für die Revolution zu mobilisieren.

Voller Zuversicht gaben sich die

Narodniki

der Hoff-

nung an einen ureigenen russischen Bauernsozialismus hin

und gründeten ihren naiven Glauben auf dem angeblichen

Freiheitsdrang und auf der urtümlichen demokratisch-

kollektivistischen Mentalität der russischen Landbewoh-

ner. Die

Narodniki

träumten vom großen Sprung – von

der bäuerlichen Dorfgemeinde als einer angeblichen

Urform der Demokratie ohne schmerzhafte Umwege

durch das kapitalistisch-bürgerliche Zeitalter direkt in den

entwickelten Sozialismus.

Zwar hatten zuvor einige kluge Köpfe wie der bekannte

Schriftsteller Ivan Turgenev (1818–1883) vor einer der-

artig übertriebenen Dorfschwärmerei gewarnt und den

intellektuellen Bauernverklärern vorgeworfen, nach einem

„neuen und unbekannten Gott“ Ausschau zu halten. Aber

der zum neuen Gott hochstilisierte russische Bauer denke

gar nicht daran, dass zu tun, was die intellektuellen Sla-

vophilen erwarteten. Vielmehr „liebt und verehrt er das,

was sie hassen, hasst das, was sie lieben.“ 

55

Und Turge-

nev sollte Recht behalten. Die Bauern hielten die aus den

55 Zit. n. Isaiah Berlin: Russische Denker, Frankfurt am Main 1981, S. 354.

Die Wolgatreidler, Gemälde von Il’ja Repin (1844–1930), Öl auf Leinwand, 131,5×281 cm. St. Petersburg, Staatl. Russisches Museum

Abbildung: akg-images