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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Mit Nikolaj II. kam dann 1894 ein Herrscher auf den

Zarenthron, der sich als grandiose Fehlbesetzung der

Geschichte erwies. Zu Beginn seiner Regierungszeit baten

ihn liberale Adlige inständig darum, endlich eine Natio-

nalversammlung einzuberufen, um die Gesellschaft durch

eine parlamentarische Vertretung auf Reichsebene an der

Regierungsarbeit zu beteiligen. Doch Nikolaj II. tat die-

sen Wunsch brüsk als „sinnlose Träumereien“ und „unver-

nünftige Hirngespinste“ ab. Aufgebracht forderte er später

sogar, das Wort „Intelligencija“, das die Zirkel politisch

und öffentlich besonders aktiver Personen beschrieb, solle

dauerhaft aus dem Sprachgebrauch getilgt werden.

45

Wie

sein Vater Alexander III., dessen Erbe er sich verpflich-

tet fühlte, verstand Nikolaj II. Politik nicht als die Kunst

der Aushandlung widerstreitender Positionen und des

Abgleichs unterschiedlicher Interessen; für ihn meinte

Politik in erster Linie die Exekution des autokratischen

Willens. Er hatte keinerlei Gespür dafür, dass die dynas-

tische Herrschaft ihre Selbstverständlichkeit verlor und

allmählich ans Ende ihrer Epoche kam. Ohne Einsicht

in die rasch wandelnden Zeitläufe und die wachsende

45 Marc Ferro: Nikolaus II. Der letzte Zar. Eine Biographie, Zürich 1991, S. 55ff.;

Andrew Verner: The Crisis of Russian Autocracy. Nicolas II. and the 1905

Revolution, Princeton 1990, S. 45–104.

Unruhe im Land meinte Nikolaj II., mit einem Staats-

und Gesellschaftsmodell aus dem 17. Jahrhundert dem

russischen Imperium den Weg ins 20. Jahrhundert weisen

zu können. Sein autokratischer Starrsinn verhinderte, dass

Russland weiterhin nicht den Pfad der Parlamentarisie-

rung und Konstitutionalisierung betrat. Damit erhielten

die aufstrebenden, auf weiteren Wandel drängenden gesell-

schaftlichen Kräfte bis 1905 keinerlei Chancen, sich in der

Kunst der Politik zu üben und Erfahrungen zu gewinnen,

wie sich der Umbruch hin zur industriellen Massengesell-

schaft parlamentarisch gestalten und kontrollieren ließ.

Ohne einen Konsensus zwischen dem Staat und der im all-

mählichen Werden befindlichen bürgerlichen Gesellschaft

anzustreben, verfiel Nikolaj II. zunehmend in einen seltsa-

men Obskurantismus. Infolgedessen entwickelte sich der

Hof in Petersburg zu einem Hort der Reaktionäre, Antise-

miten und Esoteriker, die verzweifelt versuchten, das Rad

der Zeit durch einen Griff in dessen Speichen aufzuhalten.

Die skandalträchtige Karriere des in der Zarenfamilie gern

gesehenen bäuerlichen Wanderpredigers und angeblichen

Mit „Eine Stimme aus der Vergangenheit“ ist diese Illustration des australischen

Künstlers Frank A. Nankivell aus dem Jahr 1905 überschrieben.

Abbildung: ullstein bild/United Archives/World History Archive

Diese Karikatur stellt Rasputin als Puppenspieler dar, der als Mann im

Hintergrund das Zarenpaar kontrolliert. Tatsächlich sicherte die angebliche

Rettung von Zarewitsch Alexander bei einer inneren Blutung dem Wunder-

heiler einen bedeutenden Platz am Hof.

Abbildung: picture alliance