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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Die Lage der sich seit 1861 zunehmend für Liberalismus

und Sozialismus engagierenden Intelligenz zeichnete sich

demnach durch eine doppelte Entfremdung und Polarisie-

rung aus. Zum einen zeigten Zar und Regierung kein Ver-

ständnis für die politischen Forderungen der immer noch

schwachen, aber aufstrebenden oppositionellen Kräfte

und stießen sie permanent vor den Kopf und damit von

sich ab. Zum anderen gelang es den Gebildeten wiederum

nicht, die Bauern als Bündnispartner zu gewinnen, um

mit starkem gesellschaftlichen Rückhalt als tatsächliche

Volksvertreter auftreten zu können. Diese politische Isola-

tion der Intelligenz sowohl vom zarischen Regime als auch

von der breiten Bevölkerung schränkte ihre Bewegungs-

möglichkeit und Gestaltungskraft ein, frustrierte viele

und machte sie empfänglich für radikale Strömungen.

Aus der Bewegung der

Narodniki

spaltete sich so 1879 die

linksterroristische Vereinigung

Narodnaja Volja

ab, deren

Anhänger meinten, ihre demokratischen Ziele fortan nur

mit Gewalt erreichen zu können. Sie ermordeten 1881

Alexander II. und förderten damit den politischen Terror,

dem in Russland bis 1917 knapp 9.000 Menschen zum

Opfer fielen – so viel wie in keinem anderen der europäi-

schen Länder, in denen damals der Terrorismus gleichfalls

Staat und Gesellschaft erschütterte. Aus der Isolation und

Labilität der gebildeten Gesellschaft ergab sich folglich der

seltsame Fanatismus der sich nach 1881 zunehmend radi-

kalisierenden russischen Intelligencija.

61

Bauern zwischen Befreiung, Verarmung und Anpassung

Wem es um die Untersuchung der sozialen Voraussetzun-

gen der Russischen Revolutionen geht, der kommt um die

Zentralität der Bauernfrage kaum herum. AmVorabend der

revolutionären Umbrüche lebten drei Viertel der russischen

Bevölkerung weiterhin auf dem Land und hier zumindest

teilweise von Ackerbau und Viehwirtschaft. Durch die 1861

verfügte Aufhebung der Leibeigenschaft fühlten sich die

russischen Bauern zwar endlich rechtlich frei, aber zugleich

auch von einem großen Teil des von ihnen zuvor genutz-

ten Landes „befreit“. Weil der Adel die soziale Grundlage

sowohl des Militärs als auch der Staatsverwaltung bildete,

suchte das Statut zur Bauernbefreiung verzweifelt nach

einem Kompromiss, um einerseits der Bauernschaft nicht

die wirtschaftlichen Grundlagen zu entziehen, andererseits

die Existenz des „vornehmsten Stand“ nicht zu unterminie-

ren. Die Reformer wollten die bestehende Agrarordnung

nicht zertrümmern, sondern diese durch die Beseitigung

der größten Ungerechtigkeit reparieren und fähig machen,

im Strom der Zeit standfest zu bleiben. Deshalb wurde das

verfügbare Land zwischen Gutsherr und Dorfgemeinde auf-

61 Rindlisbacher (wie Anm. 56). Anna Geifman: Thou Shalt Kill. Revolutio-

nary Terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton 1993; Claudia Verhoeven:

The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity and the Birth of Ter-

rorism, Ithaca 2009; Anke Hillbrenner/Frithjof B. Schenk (Hg.): Modern

Times? Terrorism in Late Imperial Russia (Themenheft), in: Jahrbücher für

Geschichte Osteuropas 58 (2010) H. 2; Carola Dietze: Die Erfindung des

Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866, Hamburg 2016.

Die Ermordung Zar Alexanders II. 1881 stellte nicht nur den Beginn einer

Repressionswelle dar, sondern bestärkte auch die autoritären Kräfte am

Zarenhof. Zahlreiche Todesurteile wurden damals wieder vollstreckt.

Abbildung: interfoto/Sammlung Rauch

Dieser kolorierte Kupferstich von 1856 zeigt die Arbeit in der Landwirtschaft,

die sich auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur langsam veränderte.

Abbildung: ullstein bild/histopics