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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Besonders im Hinterland von Moskau und Petersburg

sowie anderer urbaner Zentren gab es kaum eine Familie,

deren Oberhaupt nicht mindestens ein bis zwei Personen

zur Arbeit in die Stadt geschickt hatte. Der Revolutionsfüh-

rer Leo Trockij sprach darum davon, die russischen Arbeiter

seien überwiegend „vom Pflug weggeschnappt und gerade-

wegs an die Hochöfen der Fabriken geschleudert worden.“ 

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Insbesondere junge Männer sowie Frauen wollten zu

gern der ewigen Routine des Bauernlebens und der patriar-

chalen Enge des Dorfs entfliehen. Die Differenzierungspro-

zesse zwischen Bauern- und Lohnarbeiterschaft schritten

allerdings nur langsam voran. Ende des 19. Jahrhunderts

erklärten darum zeitgenössische Beobachter, der einzige

erkennbare Unterschied zwischen dem Bauern im Dorf

und seinen Brüdern in der Stadt bestehe darin, „dass der

eine sein Hemd über und der andere in der Hose trug.“ 

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Im Jahr 1913 gab es im Zarenreich schon 18 Mio.

Lohnarbeiter (darin eingeschlossen die Beschäftigten des

Kleingewerbes, die Bau- und Eisenbahnarbeiter sowie

Saison- und Landarbeiter). Das entsprach zehn Prozent

der Gesamtbevölkerung. Knapp vier Mio. davon gehör-

ten damals zur rasch wachsenden Gruppe der Industrie-

arbeiter. Sie konzentrierten sich in wenigen Städten und

Großbetrieben, so dass sie eine (im wahrsten Sinne des

73 Zit. n. Smith (wie Anm. 16), S. 19.

74 Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd. 1. Der Zerfall des Zarenreiches,

Berlin 1992, S. 189. Ausführlich zur lange Zeit schwachen Ausdifferenzie-

rung von Stadt und Land vgl. Mironov (wie Anm. 63), S. 425–519.

Wortes) schlagkräftige Gruppe bildeten, deren politische

Stärke weit größer war, als ihre absolute Zahl vermuten

ließ. Die Arbeiterfrage war darum demographisch gesehen

ein Minderheitenproblem, aber ein derart massiertes, dass

in den Haupt- und Großstädten als den neuralgischen

Schaltstellen staatlicher und ökonomischer Macht ein

potentiell explosives Sozialsegment zunehmend Gestalt

und Bewusstsein annahm.

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Auch die russische Industriearbeiterschaft – imMarx’schen

Sprachgebrach das Proletariat – hatte ihre Nabelschnur

zum Dorf noch keineswegs durchschnitten. Sie blieb

bodenständig, weil die Landparzelle der Familie im Fall

von Arbeitslosigkeit, Invalidität, Alter oder sonstiger Not

weiterhin das einzige soziale Auffangnetz blieb, um den

kompletten Absturz ins Elend zu verhindern. Das Leben

der meisten Industriearbeiter stellte sich darum als eine

fortgesetzte Pendelexistenz zwischen Feld und Fabrik dar.

Für Beschäftigte in Textilunternehmen war es normal,

dass sie während der Zeit der Aussaat und der Ernte vor-

übergehend in ihr Dorf zurückkehrten, weil dort bei der

Feldarbeit ihre Arbeitskraft dringend benötigt wurde. In

den Betrieben der Metall-, Chemie- und Elektrobranche

war die saisonale Unterbrechung des Arbeitsrhythmus

deutlich seltener anzutreffen. Arbeiterbauern nahmen

hier in jungen Jahren meist eine Dauerbeschäftigung an,

um dann im Alter von 40 Jahren wieder zurück in ihr

Dorf zu gehen, um dort ihren Vater als Familienvorstand

zu ersetzen. Die Aufeinanderfolge von Dorf- und Fabrik­

existenz blieb damit auch in den modernen Branchen des

Industriesektors oft der Normalzustand. Die Land-Stadt-

Wanderung war demnach keine Einbahnstraße, sondern

eine Route mit erheblichem Gegenverkehr.

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Die bäuerliche Fabrikarbeit wurde oftmals nicht indivi-

duell, sondern kollektiv durch Landmannschaften

(zeml­

jačestva),

organisiert. Sie bestanden meist aus Arbeiterbau-

ern, die aus einem Dorf oder zumindest aus der gleichen

Region stammten und durch diese gemeinsame Herkunft

miteinander verbunden waren. Die Landmannschaften

halfen den ländlichen Arbeitsmigranten, sich in der Stadt

zurechtzufinden. Ihre Mitglieder unterteilten sich wie-

der in kleine Gemeinschaftsverbände, die sogenannten

arteli

. Sie bestanden zumeist aus zehn bis 20 Personen,

75 Nolte (wie Anm. 34), S. 159. Ähnlich Neutatz (wie Anm. 38), S. 82f.; Hil-

dermeier (wie Anm. 31), S. 1189 f.

76 Robert E. Johnson: Peasant and Proletarian. The Working Class of Moscow

in the Late Nineteenth Century, New Brunswick 1979; Barbara Alpern En-

gel: Between the Fields and the City. Women, Work, and Family in Russia,

1861–1914, Cambridge 1994.

Gruppenfoto der Belegschaft der Firma Hubner, Moskau 1895

Foto: ullstein bild/Imagno