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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
Zustände darf keineswegs unterschätzt werden, auch wenn
das alte bäuerliche Leben mit seiner patriarchalen Enge und
Härte weitgehend fortbestand, sich damit vom modernen
Treiben in den Städten markant unterschied und so Stereo-
type der ländlichen Rückständigkeit des finsteren Mittel-
alters festschrieb. Für Millionen von bäuerlichen Familien
blieben die Agrarverhältnisse tatsächlich äußerst prekär; sie
konnten keine Rücklagen bilden und waren so Schicksals-
schlägen weitgehend hilflos ausgesetzt. Viele Haushalte,
die noch keinen direkten Zugang zu den modernen In
frastrukturen und den neuen Agrarmärkten hatten, taten
sich schwer damit, die Folgen der ländlichen Überbevölke-
rung und der daraus resultierenden Armut zu überwinden.
Knapp fünf Mio. Landbewohner verließen darum seit den
1890er Jahren den europäischen Landesteil, um als Um-
siedler in Sibirien, Zentralasien und im Kaukasus einen
Neuanfang zu suchen.
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Ein erschütterndes Ereignis, das die große Verwund-
barkeit und Krisenanfälligkeit des russischen Dorfs unter-
strich, war die Hungersnot 1891/92. Ausgelöst durch eine
langanhaltende Dürre, erfasste sie ein Gebiet vom Ural
bis zum Schwarzen Meer, in dem 36 Mio. Menschen leb-
ten. Schließlich brachen noch Cholera und Typhus aus.
Infolge der Epidemien und der Unterernährung starben
damals 600.000 Menschen. Die völlig unvorbereiteten
Staatsbehörden zeigten sich nicht in der Lage, dieses
Massenelend zu lindern. Es entstand ein allgemeiner Ein-
druck von Nachlässigkeit und akuten Versäumnissen. Die
Empörung der Öffentlichkeit sowohl im Inland als auch
weltweit war enorm. Die Hungersnot veranschaulichte die
unerträgliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit; sie dis-
kreditierte das veraltete bürokratische System und politi-
sierte die Bevölkerung. Immer weniger hatten das Gefühl,
in einer wohlgefügten Ordnung zu leben, deren Hüter
sich wirklich um das Leben der Menschen kümmerten.
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Das galt insbesondere für die Bauern, die erkannten,
dass es zwischen ihnen und dem Regime weiterhin hohe
Mauern der Missachtung und Gleichgültigkeit gab. Zwar
zeigte der russische Staat nach 1861 mit seinen Behörden
und Beamten auf dem Land zunehmend Präsenz.
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Den-
noch fühlten sich die meisten Bauern weiterhin nicht in
67 Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1176; Dahlmann (wie Anm. 36), S. 195–201.
68 Figes (wie Anm. 46), S. 171–176; Eric M. Johnson: Demographics, Inequa-
lity and Entitlements in the Russian Famine of 1891, in: Slavonic and East
European Review 93 (2015), S. 96–119.
69 Francis W. Wcislo: Reforming Rural Russia. State, Local Society, and
National Politics, 1855–1914, Princeton 1990; Corinne Gaudin: Ruling
Peasants. Village and State in Late Imperial Russia, DeKalb 1999.
Staat und Gesellschaft integriert und lehnten oftmals selbst
gut gemeinte Interventionen von außen als Einmischung
in ihre Belange ab. Modernitätsrückstände und Effizienz-
probleme blieben vielerorts evident. Die berechtigten bäu-
erlichen Forderungen nach Land und Kapital sowie nach
verbesserter Daseinsvorsorge fanden hingegen kaumGehör
bei der Regierung. Noch weit weniger als die bürgerlichen
Bildungsschichten hatten die Bauern die Möglichkeit,
aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen. Infolge des
praktizierten Kurienwahlrechts bildeten ihre Vertreter in
der lokalen Selbstverwaltung nur eine Minderheit und
konnten hier kaum den politischen Ton vorgeben. Die
„Vergesellschaftung“ der Bauern ließ weiter zu wünschen
übrig, wie besorgte Zeitgenossen nimmermüde warnten.
Das Schicksal des Dorfs schien sich trotz aller Anstren-
gungen und Anpassungen nicht zum Besseren zu wenden;
die Fragilität und Krisenhaftigkeit des bäuerlichen Lebens
bestand fort. Deshalb waren immer mehr Bauern für den
Virus des revolutionären Aufbegehrens empfänglich, der
von Gebildeten und Bauern aus den Städten auf das Land
getragen wurde. Zwar fehlte es den meisten Dorfbewohnern
im Marx’schen Sinne an einem entwickelten Klassenbe-
wusstsein und politischer Organisation. Ihre Proteste entwi-
ckelten sich weiter spontan, ungestüm und ohne klare ideo-
logische Stoßrichtung. Nichtsdestotrotz gingen die Bauern
zunehmend auf Kollisionskurs mit dem alten Regime.
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Arbeiter zwischen Feld und Fabrik
Aus der Bauernschaft ging nach 1861 mit der Lohnarbei-
terschaft eine neue soziale Gruppe hervor, die nicht mehr
in die überkommene agrargesellschaftliche Ständeord-
nung passte.
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So setzte sich die Stadtbevölkerung Peters-
burgs nach offizieller Zählung und Gliederung zu knapp
70 Prozent aus Bauern zusammen, weil die zahlreichen
Lohnarbeitergruppen in der Hauptstadt nicht nach ihrer
beruflichen Tätigkeit, sondern weiterhin nach ihrer stän-
dischen Herkunft kategorisiert wurden. Die Zahl der von
denDorfgemeinden ausgegebenen Pässe, die es den Bauern
erst erlaubten, sich auf Arbeitssuche in die Stadt zu bege-
ben, stieg von den 1860er Jahren bis in die erste Dekade
des 20. Jahrhunderts um mehr als das Siebenfache.
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70 Figes (wie Anm. 46), S. 115 f.
71 Zur überkommenen Ständeordnung vgl. Christoph Schmidt: Ständerecht
und Standeswechsel in Russland, 1851–1897, Wiesbaden 1993.
72 Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1185; Jeffrey Burds: The Social Control of
Peasant Labor in Russia. The Response of the Village Communities to La-
bor Migration in the Central Industrial Region, 1861–1905, in: Kingston-
Mann/Mixter (wie Anm. 64), S. 52–100.