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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

die in einer Fabrik nicht nur bestimmte Arbeitsplätze,

sondern in Fabrikkasernen oder Privatunterkünften auch

einen gemeinsamen Wohnraum teilten. Diese Werk- und

Wohngemeinschaften sorgten dafür, dass Neuankömm-

linge angelernt wurden, um sich in der Fabrik und auf

dem städtischen Arbeitsmarkt zu behaupten. Ihren Ältes-

ten

(starosti)

oblag es, die häufig als Gesamtsumme ausge-

händigten Löhne je nach Qualifikation, Alter und Arbeits-

einsatz an die Einzelnen aufzuteilen. Sie sorgten auch

dafür, dass die Arbeiterbauern einen Teil ihres Lohns in

ihr Heimatdorf sandten. Mit den Landmannschaften und

ihren Gemeinschaftsverbänden entstand in fabriknahen

Stadtteilen oftmals eine Übergangszone vom dörflichen

zum städtischen Leben. Während im Stadtzentrum eine

aus dem Westen importierte urbane Modernität Gestalt

annahm, kam es in den Randbezirken gleichzeitig zur

Verbäuerlichung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten

die russischen Städte darum Orte eines Zeitbruchs dar, an

denen Alt und Neu unvermittelt aufeinander prallten.

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Die Fabrikbeschäftigten waren in Russland bis 1914

längst noch nicht zu einer geeinten Arbeiterklasse zusam-

mengewachsen. Die Belegschaft der Unternehmen blieb

im hohen Maß fragmentiert. Die russischen Industriear-

beiter unterschieden sich beträchtlich voneinander, nicht

nur nach dem Grad, wie sie mit dem Dorf weiter ver-

bunden blieben, sondern auch danach, welchen Beruf sie

ausübten, in welcher Fabrik sie schufteten und welchen

Ausbildungsstand sie hatten. An der Spitze der Arbeits-

kräftepyramide standen Facharbeiter mit überdurch-

schnittlichem Lohn, starkem Berufsethos und hohem

Sozialprestige, so wie die Metallarbeiter und Drucker.

Für sie, die kaum mehr Wurzeln im Dorf hatten, war

die Industriearbeit schon zu einem generationenüber-

greifenden Erwerb geworden. Sie hatten sich zu einem

„erblichen Proletariat“ entwickelt. Am Ende der Sozi-

alhierarchie in den Arbeitermilieus standen ungelernte

Arbeitskräfte und Arbeiterinnen. Letztere waren meist

in der weniger angesehenen Textilindustrie beschäftigt.

Während die Arbeiteraristokraten auf Respektabilität

bedacht waren und sich betont „kultiviert“ benahmen,

um sich von den finsteren Massen der Arbeiterbauern

abzuheben, herrschten bei diesen noch die rauen Manie-

ren des Dorfs vor. Das schlug sich in regelmäßigen Trin-

kereien und Schlägereien sowie einem kaum gebändigten

77 Joseph Bradley: Muzhik and Moscovite. Urbanisation in Late Imperial

Russia, Berkeley 1985; Bernd Bonwetsch: Die Russische Revolution 1917.

Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberum-

sturz, Darmstadt 1991, S. 54–78.

„Hooliganismus“ nieder, der die städtische Gesellschaft

in Angst und Schrecken versetzte.

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Der Umgang der Arbeiter war untereinander keines-

wegs nur von Solidarität, sondern oft auch von erbitter-

ter Konkurrenz, übler Diskriminierung und gewaltsamen

Übergriffen gekennzeichnet. Während der Zeit hoher

Arbeitslosigkeit empfingen in den Städten schon sozia-

lisierte und erfahrene Fabrikarbeiter die mit den Zügen

anreisenden Arbeiterbauern am Bahnhof, um sie dort zu

verprügeln und ihnen auf handfeste Weise zu verdeutli-

chen, dass sie auf dem städtischen Arbeitsmarkt nichts

verloren hätten.

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In den Peripherien des Zarenreichs luden sich die Kon-

flikte zwischen den einzelnen Arbeitergruppen sogar mit

interethnischen Spannungen auf. In der am Kaspischen

Meer gelegenen Stadt Baku, die seit dem letzten Drittel

des 19. Jahrhunderts infolge eines Erdölbooms explosions­

artig wuchs, waren die muslimischen Aserbaidschaner in

den Unternehmen meist nur als Hilfsarbeiter beschäftigt,

während ihnen vor allem Armenier, aber auch Russen,

Georgier, Juden und Ukrainer als Facharbeiter und Vor-

gesetzte gegenüber traten. Als es nach 1904 in Baku zu

gewalttätigen Streiks kam, zerstörten die muslimischen

Hilfsarbeiter nicht nur die Hälfte der Industrieanlagen,

sondern organisierten auch Pogrome und bandenmäßige

Plünderungen, unter denen vor allem Stadtbewohner mit

anderer Nationalität zu leiden hatten.

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Desolate Arbeits- und Lebenszustände

Diese Gewaltausbrüche erklärten sich nicht zuletzt aus

den oftmals desolaten Zuständen, in denen sich die Arbei-

ter ihr Leben einzurichten hatten. Die massive Zuwande-

rung vom Land erhöhte den Druck auf die längst schon

überlastete städtische Infrastruktur. In den brodelnden,

vor Menschen und Gebäuden zunehmend überquellen-

den Städten gab es vor allem viel zu wenig Wohnraum.

Die Fabrikarbeiter mussten mitunter direkt an ihren

Arbeitsplätzen nächtigen oder sich in zugigen und ver-

wanzten Schlafbaracken nicht nur den Tisch, sondern

auch das Bett teilen. Dort, wo sich zu viele Menschen auf

zu wenig Raum drängten, war es um die Hygiene und

78 Gestwa (wie Anm. 63), S. 459-578; Mark D. Steinberg: Moral communi-

ties. The Culture of Class Relations in the Russian Printing Industry, 1867-

1907, Berkeley 1992; Joan Neuberger: Hooliganism. Crime, Culture, and

Power in St. Petersburg, 1900-1914, Berkeley 1993.

79 Gestwa (wie Anm. 63), S. 506-510.

80 Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München

2003, S. 77-83.