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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
die Gesundheit nicht gut bestellt. Mit wenigen Ausnah-
men blieben die Stadtteile, in denen die Arbeiter lebten,
bis 1914 ohne Kanalisation. Die städtische Verwaltung
erwies sich als unfähig, die zahlreichen Infrastrukturpro-
bleme anzugehen, und bekam deshalb die bedrohlichen
sanitären Probleme einfach nicht in den Griff. Petersburg
galt daher zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die unge-
sündeste Hauptstadt Europas. Hier waren 1908 noch ein-
mal 14.000 Menschen einer Choleraepidemie zum Opfer
gefallen. Die Elendsviertel, in denen sich die Arbeiter
zusammenpferchten, entwickelten sich dabei zu sozialen
Brennpunkten der besonderen Art.
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81 Smith (wie Anm. 16), S. 17; James H. Bater: Modernization and Public
Health in St. Petersburg, 1890-1914, Berlin 1985. Zu den sozialen Prob-
lemen im „Moloch Stadt” vgl. auch die alltagshistorischen Schilderungen
bei Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbil-
dern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 2. Auf dem Weg in die
Moderne, Zürich 2003, S. 290–380.
Gleichsam menschenunwürdig und rüde war der Arbeits
alltag in den Fabriken, die in Russland ihren Anstaltscha-
rakter niemals ganz verloren. Das innerbetriebliche Mit-
einander war von körperlicher als auch verbaler Gewalt
geprägt. Während die Unternehmensleitung die Beleg-
schaft schikanierte und willkürlich bestrafte, reagierten
die Arbeiter auf diese miserable Behandlung, die schlechte
Entlohnung und die stumpfsinnige Plackerei mit Bum-
melei, Diebstahl und absichtlichen Störungen der Pro-
duktionsabläufe. Zwar versuchten einige Unternehmer
mit sozialen Engagement das harte Los der Fabrikarbeit
abzumildern und zu ihrer Belegschaft ein paternalisti-
sches Verhältnis aufzubauen. Doch wenn die Arbeiter es
wagten, für ihre Interessen öffentlich einzustehen und die
Auseinandersetzung mit der Fabrikobrigkeit zu erproben,
dann zögerten die Fabrikanten keine Sekunde, Polizisten
und Kosaken zur Hilfe zu rufen und die Arbeiter bru-
tal niederknüppeln zu lassen. Ihre Arbeitgeber und den
Staat nahmen die Arbeiter darum oftmals als einen in sich
geschlossenen Unterdrückungs- und Ausbeutungsappa-
rat wahr. Angesichts ihrer entwürdigenden Behandlung
klagten Arbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts über ein
„Sklavenregime“ in den Fabriken und erklärten, sie wür-
den sogar „schlechter leben als ein Pferd“.
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Statt den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, sich poli-
tisch zu organisieren, um im zivilen Miteinander ihre Be-
lange vorzutragen und Kompromisse auszuloten, setzte der
bürokratisierte Polizeistaat auf brutale Härte. Starrsinnig
verweigerte er bis 1905 den Arbeitern jegliche Versamm-
lungs- und Streikrechte und verbot die Einrichtung von
Gewerkschaften. Zudem zeigte die Regierung nur wenig
Neigung, das soziale Elend der Industriearbeit durch eine
Fabrikgesetzgebung zu verbessern. Zwar wurden schon
1881 mit der Errichtung der staatlichen Fabrikinspektio-
nen die ersten Arbeiterschutzmaßnahmen ergriffen, um –
wie es hieß – „englischen Verhältnissen“ vorzubeugen.
Doch folgte dem anschließend keine konsequent fortge-
setzte Sozialpolitik. Erst 1912 führte der russische Staat
eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung ein.
Damals standen die Zeichen in der Fabrikarbeiterschaft
aber schon längst auf Radikalisierung.
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82 Zit. n. Figes (wie Anm. 46), S. 129.
83 Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1197–1202; Joachim von Puttkamer: Fabrik
gesetzgebung in Russland vor 1905. Regierung und Unternehmerschaft
beim Ausgleich ihrer Interessen in einer vorkonstitutionellen Ordnung,
Köln 1996.
Kinderarbeit war in den frühen Phasen der Industrialisierung keine Seltenheit,
so auch in dieser russischen Schuhfabrik im Jahr 1888.
Foto: interfoto/Granger NYC