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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
geteilt. Das agrarische Reformwerk sah zudem vor, dass die
Bauern das ihnen zugewiesene Gemeindeland durch Geld-
zahlungen im Laufe von 49 Jahren von ihren vormaligen
Gutsherren abzulösen hatten. Zwar hielt sich diese finanzi-
elle Last meist durchaus in Grenzen. Allerdings mussten die
Bauern zusätzlich weiteres Land von den Adligen kaufen
oder pachten, um über die Runden zu kommen. Der bishe-
rigen durch die Leibeigenschaft fixierten rechtlichen Hörig-
keit folgte darum nach 1861 oftmals eine wirtschaftliche
Abhängigkeit. Zudem kam es seit den ausgehenden 1890er
Jahren zunehmend zu einem Konkurrenzkampf zwischen
adligen Agrarunternehmen und Bauern. Damals stiegen die
Preise für landwirtschaftliche Güter deutlich an. Deshalb
begannen die Adligen, ihre Ländereien zunehmend selbst
zu nutzen, und kündigten ihre Pachtverträge mit den Bau-
ern. Das wiederum hatte spürbare negative Folgen für die
dörfliche Wirtschaft. Dieser Verdrängungswettbewerb im
Agrarsektor schürte den Unmut der Bauern, die sich betro-
gen fühlten, weil in ihrem Selbstverständnis das Land den-
jenigen gehören müsste, die es mit ihren eigenen Händen
bestellten und bewirtschafteten.
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Der Unmut der Bauern wuchs, weil es zwischen 1861
und 1914 zu einem enormen Bevölkerungswachstum
gekommen war. Die Einwohnerzahl des Russischen Kai-
serreichs stieg insgesamt von 74 auf 178 Mio. Menschen
an. Dieser Zuwachs ging zu über 80 Prozent zu Lasten des
Dorfs. Weil die für die bäuerlichen Familienwirtschaften
benötigten Arbeitskräfte überwiegend aus dem eigenen
Haushalt kamen, galt frühes und universelles Heiraten
bei den russischen Bauern als Pflicht. Dementsprechend
gab es eine außerordentlich hohe Kinderzahl. Das demo-
graphische Wachstum wurde zwar durch die europaweit
höchste Säuglings- und Kindersterblichkeit gemindert;
dennoch gab es einen großen Geburtenüberschuss, so
dass im Dorf immer mehr Menschen ernährt und versorgt
werden mussten. Das verstärkte sowohl die Existenznöte
zahlreicher dörflicher Haushalte als auch den bäuerlichen
Landhunger. Viele Bauern hofften daher auf eine neue
Agrarreform, um mit der lang ersehnten Umverteilung des
adligen Landes an die Dorfgemeinden ihrem Dasein auf
viel zu kleinen Hofstellen endlich ein Ende zu machen.
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62 Eine abgewogene Bewertung der Bauernbefreiung von 1861 geben Hil-
dermeier (wie Anm. 31), S. 884–898; Moon (wie Anm. 29), S. 110–129.
63 Einen guten Überblick über die demographische Entwicklung geben Hilder-
meier (wie Anm. 31), S. 1171–1176; Klaus Gestwa: Proto-Industrialisierung
in Russland. Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in Ivanovo und Pavlovo,
1741–1932, Göttingen 1999, S. 403–450; Boris N. Mironov: The Social His-
tory of Imperial Russia, 1700–1917. Vol. 1, Boulder 2000, S. 55–122.
Die Landverknappung schuf zugleich die Notwendigkeit,
die traditionelle Wirtschaftsweise zu verändern und sich
neue Einkommensmöglichkeiten zu erschließen. Viele
Bauern gingen zu einer intensiven Landwirtschaft über. Sie
weiteten ihre Viehwirtschaft aus, setzten auf den Gemüse-
und Obstanbau sowie auf Pflanzen, die infolge der raschen
Industrialisierung von den Fabriken nachgefragt wurden.
Zudem erschlossen die bäuerlichen Familienwirtschaften
noch stärker als zuvor gewerbliche Einkommensquellen.
Das ländliche Handwerk, die häusliche Gewerbepro-
duktion (das sogenannte
Kustar‘
) und die Wanderarbeit
erbrachten zusätzliche Einkünfte. Die bäuerlichen Fami-
lienwirtschaften stellten zunehmend von der naturalen
Selbstversorgung auf Marktproduktion um und brachten
sich damit immer mehr in größere Warenkreisläufe ein.
Zwar wies die Landwirtschaft nicht die hohen Wachs-
tumsraten des russischen Industriesektors auf; aber auch
die Agrarproduktion legte spürbar zu. Auf dem internatio-
nalen Agrargütermarkt war das Zarenreich gegen Ende des
19. Jahrhunderts zum weltweit größten Getreideexporteur
aufgestiegen, und weit mehr als die Hälfte dieses ausge-
führten Getreides hatten russische Bauern geliefert. Im
Zarenreich war nach 1861 die bäuerliche profitorientierte
Marktproduktion im Aufschwung begriffen.
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Das ländliche Leben organisierte die Dorfgemeinde
(russisch:
mir
oder
obščina).
An deren periodischen Ver-
sammlung nahmen alle Haushaltsvorstände (also meist
nur die ältesten Männer der Familie) teil. Gemeinschaft-
lich wurde das von den vormaligen Gutsbesitzern abge-
löste dörfliche Anteilland nach der Zahl der Arbeitskräfte
an die einzelnen Haushalte verteilt und dementsprechend
zugleich deren Steuer- sowie Abgabenlast bemessen. Für
die Dorfgemeinde galt eine kollektive Solidarhaftung.
Deshalb führte das Umverteilungsverfahren von Land und
Abgaben dazu, dass es meist zu keiner dauerhaften sozia-
len Ausdifferenzierung der russischen Bauernschaft kam.
Wohlstand erwies sich oftmals als temporär, weil große,
besser gestellte Haushalte regelmäßig auseinandergingen.
64 Zur wirtschaftlichen Leistungskraft der bäuerlichen Familienwirtschaf-
ten nach 1861 vgl. Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1131–1139; Gestwa:
(wie Anm. 63); Heinz-Dietrich Löwe: Die Lage der Bauern in Russland
1880–1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen
Gesellschaft des Zarenreiches, St. Katharinen 1988; Esther Kingston-
Mann/Timothy Mixter (Hg.): Peasant Economy, Culture, and Politics of
European Russia, 1800–1921, Princeton 1991; Jeffrey Burds: Peasant
Dreams and Market Policies, Pittsburgh 1998; David Kerans: Mind and La-
bor on the Farm in Black-Earth Russia, 1861–1914, Budapest 2001; Katja
Bruisch u.a.: Where is the Backward Russian Peasant? Evidence against
the Superiority of Private Farming, 1883–1913, in: The Journal of Peasant
Studies 42 (2015) H. 2, S. 425–447.