Table of Contents Table of Contents
Previous Page  17 / 76 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 17 / 76 Next Page
Page Background

17

Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

leicht den Bedürfnissen eines Volkes irgendwo im welt-

fernen Zentralafrika entsprechen kann, nicht aber den

Bedürfnissen des russischen Volkes, das sich in immer

zunehmendem Maße in der ganzen Welt gemeinsame Bil-

dung aneignet […]. Mit Gewaltmaßnahmen kann man

das Volk unterdrücken, aber nicht regieren.“ 

49

Schonungslos brachte Tolstoj die innere Zerrissenheit

Russlands infolge der immer stärker auseinanderdriften-

den Wandlungs- und Beharrungskräfte zum Ausdruck.

Er thematisierte verschiedene Gärungs- und Radikalisie-

rungsprozesse, an deren Entschärfung dem Zaren und der

russischen Regierung anscheinend nicht genügend gele-

gen war. Tolstojs eigenes Zerwürfnis mit Kirche, Polizei

und Autokratie stand stellvertretend für die fortschrei-

tende Entfremdung zwischen den unnachgiebig kon-

servativ bleibenden Repräsentanten der alten Ordnung

und den liberal-bürgerlichen Kräften, die sich eigentlich

konstruktiv in den politischen Prozess einbringen und

die Reformen weitertreiben wollten, um das Zarenreich

auf evolutionäre und kooperative Weise in ein modernes

Staatswesen zu verändern.

50

Nikolaj II. hingegen wollte einen quasi-mittelalterli-

chen Staat, der von einer modernen Industriewirtschaft

getragen wurde und über eine starke Armee verfügte, um

Russland als imperialistische Großmacht zu etablieren.

Das ging aber nicht zusammen. Die Regierungsaufgaben

waren in den modernen Zeiten zu Beginn des 20. Jahr-

hunderts zu komplex geworden, als dass der Zar und seine

Bürokraten allein damit fertig werden konnten. Mit sei-

nem engstirnigen Pochen auf seine „göttliche Autorität“

versäumte es Nikolaj II. leichtfertig, die eigentlich loyal

eingestellten Bildungsschichten in die Regierungsarbeit

einzubeziehen und sich deren Kompetenzen sowie Initi-

ativen zu eigen zu machen. Dadurch verhinderte er den

Anbruch einer liberal-demokratischen Epoche, in der sich

die in Russland noch schwachen, aber sich dynamisch

entwickelnden gesellschaftlichen Kräfte in der Kunst der

Politik und des Regierens hätten üben können. 1903

gründeten die bürgerlichen Kräfte mit dem „Befreiungs-

bund“ und dem „Bund der

Zemstvo

-Konstitutionialisten“

auf Reichsebene zwei übergreifende oppositionelle Orga-

nisationen, deren Führungspersönlichkeiten immer vehe-

menter die starrsinnige Regierung attackierten und damit

ihrerseits die Polarisierung zwischen dem autokratischen

49 Zit. n. Aust (wie Anm. 16), S. 25 f.

50 Zum Leben und Wirken des großen russischen Schriftstellers vgl. aus-

führlich Ulrich Schmid: Lew Tolstoj, München 2010; Rosamund Bartlett:

Tolstoy. A Russian Life, London 2010.

Staat und der gebildeten Gesellschaft forcierten. Statt

einer Modernisierungspartnerschaft entwickelte sich eine

unerbittliche Gegnerschaft.

51

Die Kluft zwischen wandlungsbegieriger Elite und

eigensinniger Bauernschaft

Die Gebildeten nahmen für sich in Anspruch, für das

Volk und mit dem Volk zu sprechen. Und tatsächlich

engagierten sich die Bildungsschichten als Lehrer, Ärzte,

Agronomen und Ingenieure dafür, das Leben der einfa-

chen Bauern und Arbeiter zu verbessern. Zunehmend

gab es ständeübergreifende Begegnungen und auf Dauer

gestellte Kontaktzonen, in denen es zu Interaktionsprozes-

sen kam. Die Bildungsschichten begannen, sich für bäu-

erliche Traditionen und das harte Leben auf dem Land

zu interessieren. Typisch dafür ist die Künstlergruppe der

Peredvižniki

(Wanderer), deren Vertreter gegen die star-

ren Restriktionen der Kaiserlichen Kunstakademie auf-

begehrten und sich für einen sozialkritischen Realismus

einsetzten, um die Unterdrückung und Ungleichheit der

Bauern zu thematisieren. Ihre Kunst wollten sie zu einem

gesellschaftlichen Ereignis für viele werden lassen. Des-

halb organisierten sie zwischen 1871 und 1923 insgesamt

48 Wanderausstellungen überall im Land.

52

Einer der herausragenden Vertreter der

Peredvižniki

war Il’ja Repin (1844–1930), der aus einfachen Verhält-

nissen stammte und dank seines Talents und eines Stipen-

diums Kunst studieren durfte. Sein 1873 fertig gestell-

tes Gemälde „Wolgatreidler“ bringt das sozialpolitische

Credo der

Peredvižniki

gut zur Anschauung. Es zeigt elf

Treidler, die einen schweren Lastkahn ziehen. Dynamik

gewinnt das Bild durch den Wechsel von erhobenen und

gesenkten Köpfen, die den Rhythmus der monotonen

Arbeit verdeutlichen. Die ungeschönt und realistisch dar-

gestellten verschiedenen Charaktere repräsentieren die

Gesamtheit der arbeitenden Bevölkerung. In den Gesich-

tern lässt sich ein breites Spektrum von Emotionen erken-

nen, von Sanftmut über Entschlossenheit bis hin zu Wut.

Der jüngste Treidler blickt als einziger hoffnungsvoll in

die Ferne und versucht, sich vom drückenden Gurt der

Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien. Die breite,

langsam dahinfließende Wolga im Hintergrund kann als

51 Zur politischen Organisation der liberal-bürgerlichen Kräfte vor 1903 vgl.

Hildermeier (wie Anm. 31), S. 966–974; Melissa Stockdale: Liberalism and

Democracy. The Constitutional Democratic Party, in: Anna Geifman (Hg.):

Russia under the Last Tsar. Opposition and Subversion 1894–1917, Oxford

1999, S. 153–178.

52 Elizabeth Valkenier: Russian Realist Art. The State and Society, the Pered-

vizhniki and their Tradition, New York 1989.