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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Die zarische Regierung hatte lange Angst vor einer Bil-

dungsexplosion gehabt. Ihre Vertreter fürchteten, ein

Zugewinn an Wissen würde auch die gesellschaftliche Kri-

tik an den bestehenden Verhältnisse befördern. Die „Gro-

ßen Reformen“ machten aber deutlich, dass Russland

eine akademische Leistungselite und ausgebildete Fach-

kräfte brauchte, um die Modernisierung der Wirtschaft

und der Staatsverwaltung voranbringen zu können. Trotz

zeitweiliger konservativer Gegensteuerung und fortbeste-

hender Resistenzen lief der Gesamtprozess nach 1861 auf

einer Förderung und Öffnung des Bildungswesens sowie

dementsprechend auf einen starken Professionalisierungs-

schub hinaus.

Die Zahl der russischen Staatsbürger mit Hochschul­

diplom nahm von 20.000 während der 1860er Jahre auf

85.000 gegen Jahrhundertende und bis 1914 schließlich

auf 220.000 zu. Im Studienjahr 1913/14 waren schon

63.000 Studierende an den russischen Universitäten und

technischen Hochschulen eingeschrieben. Dank zuneh-

mender staatlicher und privater Stipendien war zwischen

1880 und 1910 vor allem ein starker Anstieg von Stu-

dierenden aus den gesellschaftlichen Mittel- und Unter-

schichten zu erkennen (ihr Anteil stieg von 15 Prozent

auf knapp 40 Prozent). Innerhalb eines halben Jahrzehnts

verdreifachte sich im Zarenreich die Zahl der niederge-

lassenen Ärzte. Auch weitere Professionen erlebten einen

Aufschwung. Dazu gehörten in erster Linie Juristen, Apo-

theker, Agronomen und Ingenieure. Sie bildeten Berufs-

verbände, um sich zu organisieren und ihre Belange in der

russischen Öffentlichkeit vorzutragen. Dadurch entstand

ein Verbands- und Klubleben, das den Nukleus einer sich

nun zaghaft entwickelnden Zivilgesellschaft darstellte.

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Die Mehrheit der russischen Hochschulabsolventen

gab als Lehrkräfte erworbenes Wissen weiter. 1880 hatte

es noch 24.400 sogenannte „Volkslehrer“ gegeben; diese

Zahl erhöhte sich bis 1899 auf 60.000 und stieg dann bis

1911 auf 153.300 an. Während 1856 in 8.227 Schulen

nur knapp 450.000 Schüler unterrichtet worden waren,

zählte man 1911 im Zarenreich schon über 100.000

Schulen mit 6,6 Mio. Schülern. Der Ausbau des Schul-

wesens war das bevorzugte Demonstrationsobjekt der

Leistungsfähigkeit der ländlichen Selbstverwaltung, deren

Zemstvo

-Organe einen Großteil ihrer verfügbaren Mittel

in den Bildungsbereich investierten. Nachdem die russi-

sche Volkszählung von 1897 ergeben hatte, dass damals

30 Prozent der Männer und 13 Prozent der Frauen des

Schreibens und Lesens mächtig waren, begann anschlie-

ßend die stürmische Phase der Massenbildung, wäh-

rend der die Zahl der Analphabeten rasch sank und das

Zarenreich europäische Länder wie Italien und Spanien

in der Schriftkundigkeit seiner Bewohner hinter sich ließ.

41 Hildermeier (wie Anm. 31), S. 1218–1226; Edith W. Clowes u.a. (Hg.): Be-

tween Tsar and People. Educated Society and the Quest for Public Identity

in Late Imperial Russia, Princeton 1991; Dietrich Beyrau: Intelligenz und

Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis

1985, Göttingen 1993, S. 18–24; Lutz Häfner: Der „Neue Klub“ in Kazan

1900 bis 1913. Kristallisationspunkt lokaler Gesellschaft, in: Hausmann

(wie Anm. 39), S. 377–404; Ilya V. Gerasimov: Modernism and Public Re-

form in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization,

1905–1930, London 2009; Katja Bruisch: Populismus, Profession und Poli-

tik, in: Timm Buchen/Malte Rolf (Hg.): Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale

Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918), München

2015, S. 240–260.

„Der Analphabet ist zugleich ein Blinder. Überall warten auf ihn Misserfolge

und Unglücke.“ Frühsowjetische Plakatinitiative gegen den Analphabetismus,

der durch die Ausweitung der Schulbildung schon vor 1917 deutlich reduziert

worden war

Abbildung: ullstein bild/Sputnik/pavel Balabanov